Szene im Wandel

Das Festival „Tanznacht” als Gradmesser für die Entwicklung der freien Berliner Tanzszene

Berlin, 03/12/2008

Betrachtet man Tanz als eine Kunst des Umgangs mit dem Raum, so waren die 1990er-Jahre in Berlin ein Paradies für junge Choreografen. In großer Zahl strömten Künstler aus aller Welt in die ehemalige Frontstadt, um die Freiräume nach dem Mauerfall auszuloten. Für viele von ihnen, wie den Franzosen Xavier Le Roy oder die Argentinierin Constanza Macras, bot die Mischung aus kreativer Atmosphäre und niedrigen Lebenshaltungskosten die perfekten Laborbedingungen für eine choreografische Arbeit jenseits von institutionellem Rahmen und akademischer Doktrin. Man traf einander auf Partys oder beim Contact-Jam, gründete lose Arbeitsgruppen und entdeckte immer wieder leerstehende Räume, die es zu besetzen und künstlerisch „zwischenzunutzen” galt.

In wunderschön selbstironischer Weise hat Sasha Waltz das Leben dieser internationalen Künstlerbohème in ihrer frühen Trilogie „Travelogue” portraitiert. Die schier unbegrenzten Möglichkeiten einer Metropole im Umbruch passten hervorragend zu den Forschungsarbeiten um Körperbilder und multiple Identitäten, die viele Mitglieder der Szene bald erfolgreich bei Festivals im In- und Ausland zeigten. Doch auch wenn Künstler wie Thomas Lehmen oder Felix Ruckert um die halbe Welt tourten – in Berlin selbst wurden ihre Arbeiten damals weder von Publikum noch von der Kulturpolitik besonders zur Kenntnis genommen. Zwar übernahm Sasha Waltz 1999 die künstlerische Ko-Leitung der Schaubühne und brachte damit den zeitgenössischen Tanz stärker ins Bewusstsein des Theaterpublikums, doch dominierte bei Aufführungen der freien Szene nach wie vor die gewohnte Mischung aus Freunden, Kollegen und Kritikern im Zuschauerraum.

Um auch politisch endlich für Sichtbarkeit zu sorgen, initiierten die beiden aktivsten Tanz-Spielstätten der Zeit, die aus der Hausbesetzerszene der späten 70er-Jahre hervorgegangene Tanzfabrik und das Theater am Halleschen Ufer, im Dezember 2000 das Projekt der „Tanznacht”. Einen Abend lang wurden in der Akademie der Künste Ausschnitte aus den aktuellen Arbeiten Berliner Tanzschaffender gezeigt, um einen Überblick über die Bandbreite der Ansätze zu geben und ein klares Signal für die Bedeutung der Kunstform in der Hauptstadt zu setzen. Als Moderatorin hatte man aus Gründen der Breitenwirkung die Schauspielerin Katja Riemann verpflichtet. Die erste „Tanznacht” war ein solcher Erfolg, dass man sich kurzerhand entschloss, die Veranstaltung von nun an im Zwei-Jahres-Turnus zu wiederholen. Die neugeschaffene Biennale war vor allem bei ausländischen Festivalchefs beliebt, die innerhalb einer Nacht ein übersichtliches Tablett mit Appetithäppchen serviert bekamen, von dem sie sich nur noch zu bedienen brauchten.

Unter den Künstlern allerdings war das Konzept heftig umstritten. Nicht nur, weil wegen der beschränkten Kapazität zwangläufig immer Choreografen ausgeschlossen blieben, sondern vor allem wegen der relativ konzeptlosen Aneinanderreihung tänzerischer Splitter, die den einzelnen Werken kaum gerecht wurde. Schnell wurde die Auswahl, die für die beteiligten Künstler im besten Fall eine Reihe einträglicher internationaler Gastspiele versprach, zum Politikum. Vor zwei Jahren einigten sich die Veranstalter darauf, dass es aus Gründen der Neutralität wünschenswert wäre, wenn ein außenstehender Leiter dem Minifestival ein neues Profil verliehe.

Heike Albrecht, die zuvor in Leipzig gearbeitet hatte, entwickelte damals im Dialog mit den beteiligten Künstlern ein thematisch orientiertes Programm, in dem sie nicht nur unterschiedliche tänzerische Generationen wie die Hip-Hopper „Flying Steps” und die Grande Dame des Tanztheaters Susanne Linke miteinander in Zwiesprache treten ließ, sondern auch Künstler, die bislang kaum auf großen Berliner Bühnen vertreten waren, zumindest mit Videoarbeiten präsentierte. Die Reaktionen von Publikum und Szene waren dermaßen positiv, dass Albrecht direkt im Anschluss die Leitung der Off-Kunst-Stätte Sophiensäle angeboten wurde.

Auch im Dezember 2008 wird es wieder eine „Tanznacht” geben. Leiter ist diesmal Peter Stamer, der seine Karriere am Nationaltheater Mannheim begann und bis vor Kurzem in Wien als freier Dramaturg, Autor und Performancekünstler zwischen den Welten von Theorie und Praxis wandelte. Im Vergleich zur ersten Biennale vor acht Jahren findet er für seine Arbeit komplett andere Rahmenbedingungen vor. Für eine Sichtbarkeit des Tanzes in der öffentlichen Wahrnehmung muss die „Tanznacht” heute nicht mehr kämpfen. So ist nicht nur das Interesse der Berliner Publikums an zeitgenössischem Tanz rapide angestiegen, auch die Spielstättenlandschaft hat sich komplett verändert. Vor vier Jahren ging das eher lokal orientierte Theater am Halleschen Ufer im Theaterkonglomerat Hebbel am Ufer auf, das der Stadt seitdem mit einem Dauerbeschuss mit Festivals, Symposien und hochkarätigen Gastspielen Anschluss an die Diskurse der internationalen Tanzszene verschaffte. Seit nunmehr zwei Jahren hat sich am Spreeufer das Radialsystem V etabliert, das nicht nur Sasha Waltz und ihrer Company nach dem Weggang von der Schaubühne eine Heimat bietet, sondern ganz explizit versucht, ein Publikum jenseits der alternativen Künstlerkreise anzusprechen. Zählt man alle Bühnen in Theatern, Clubs oder selbstverwalteten Alternativprojekten zusammen, so gibt es heute in Berlin um die 30 Orte, an denen Tanz regelmäßig zu sehen ist – und ständig werden es mehr.

Zwar bleibt die Subventionspolitik der Stadt sparsam und oft sehr willkürlich – von Berliner Geld allein kann immer noch kein Choreograf überleben – doch sind Mieten und Lebenshaltungskosten in Berlin nach wie vor so gering, dass die Metropole immer noch internationale Künstler in großer Zahl anzieht. Zudem hat auch die Eröffnung des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz im vergangenen Jahr zu einer größeren Offenheit beigetragen. Das von Tanzplan der Bundeskulturstiftung geförderte Gemeinschaftsprojekt zwischen der Universität der Künste, der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch und der freien Szene bindet nicht nur Choreografen und Theoretiker aus der Szene als Dozenten ein, sondern erzielt auch eine starke Wirkung nach außen: In Podiumsdiskussionen und Showings treten die Studenten in einen stetigen Dialog mit anderen Berliner Künstlern und dem Publikum und sorgen so für eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Tanz als zeitgenössischer Ausdrucksform. Galten noch vor einigen Jahren die vielzitierte „Trash-Ästhetik” von Constanza Macras als typisches Berliner Produkt, so ist die Atmosphäre heute eher von einer Pluralität der Stile geprägt. Einziger gemeinsamer Nenner ist dabei zumeist das Bestreben, aus der finanziellen Not eine Tugend zu machen: So beschränken sich die meisten Berliner Produktionen auf kostengünstige Solo- oder Duo-Formate, die meist für Präsentationen in kleinen Studios und nur selten für die große Bühne erarbeitet werden.

Für Peter Stamer, der parallel zur „Tanznacht” in seinem Forschungsprojekt „PRACTICE” den Entstehungsprozess von Choreografie als Ergebnis einer Fülle kritischer Dialoge untersucht, geht es in seinem Festival vor allem um zwischenmenschliche Begegnung: „Das künstlerische Potenzial dieser Stadt, die Szene, ist keineswegs abstrakt. Es wird von Menschen gebildet, die hier arbeiten, es hat zu tun mit ihrer choreografischen und ästhetischen Praxis, mit dem, was sie auf, vor, neben der Bühne tun. Diese Praxis ist nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte, auch ihrer Körper- und Wirkungsgeschichte, zu begreifen. Und um diese Geschichte verstehen zu können, dafür braucht es den direkten Dialog, die direkte Ansprache.” Diese Menschen, die das „choreografische Feld” ausmachen – also Künstler, Kritiker, Zuschauer und Kulturpolitiker -, will Stamer in einer Atmosphäre des gegenseitigen Interesses zusammenbringen, in der Konflikte ausgetragen werden können und auch sollen.

Um die Möglichkeit zu einer solchen „begeisterten Auseinandersetzung ohne hippieske Harmonie” zu schaffen, hat Stamer das Festival auf vier Tage ausgedehnt und dem bisherigen Veranstaltungsort, der Akademie der Künste, den Rücken gekehrt. Seine „Tanznacht” findet im Dezember in einem um die 4000 Quadratmeter großen ehemaligen Depot der Berliner Verkehrsbetriebe im vielgeschmähten Berliner Problemviertel Wedding statt, dass seit knapp einem Jahr als Probenstätte für freie Choreografen und vor allem für die Studenten des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz dient. Mit ihrem improvisierten Industriecharme erinnern die sogenannten „Uferhallen” stark an die Zwischennutzungsprojekte der 90er-Jahre. Zwischen stillgelegten Hebekränen und Montagegräben, also in einer Atmosphäre „vergangener Arbeit”, will der Kurator zu einer festiven Reflexion über „Tanzarbeit” einladen, die sich bei allem Anspruch nicht nur an Fachpublikum wenden will, sondern sich als „niederschwelliges Kulturereignis” versteht.

Während auf zwei Bühnen Stücke gezeigt werden, die zum Teil von den Choreografen extra für die Veranstaltung erarbeitet werden und an einer Fülle von Nebenschauplätzen andere Präsentationsformate wie Videos oder Lecture-Performances zu erleben sein werden, ist das eigentliche Herzstück der „Tanznacht” die ehemalige Inspektionshalle des Areals. In zehn von Künstlern dekorierten und umgebauten Wohnwagen findet dort tagsüber eine Reihe von Workshops und Diskussionen statt. Nachts sollen sie zur Schlafstätte für erschöpfte Gäste werden und Besuchern, Kritikern und Kulturpolitikern die Möglichkeit zu einem ungewöhnlich informellen Dialog mit den Tanzschaffenden geben, die selbst dort übernachten. Im Gegensatz zu anderen Festivals, die mehr auf eine glatte Oberfläche setzen, ist für Stamer gerade das Emotionale und Angreifbare seiner Tanznacht wichtig. Weit mehr als um das bloße Abspielen von Berliner Produktionen geht es ihm um eine „intensive Kommunikation” zwischen allen Beteiligten – fast so, wie es sie Anfang der 90er-Jahre in den schlecht beheizten Studios der damals jungen Szene gab.

Dieser Text wurde erstmals in der Ausgabe 11/08 der Deutschen Bühne veröffentlicht. 

Die „Tanznacht” findet vom 4. bis 7. Dezember in den Uferhallen, Uferstr. 23, Berlin-Wedding statt.

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