Drei Stunden Leben verschenkt

Joachim Schloemers Tanz und Musik-Projekt „In Schnee“

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Freiburg, 05/10/2008

Dringend gefordert: ein nachträgliches Copyright für Johann Sebastian Bach! Seit Balanchine 1940 mit „Concerto Barocco“ die Schleuse geöffnet hat, hat es einen noch immer zunehmenden Strom von Bach-Balletten gegeben. Klavierwerke und Kantaten, Violin- und Cello-Partiten, Orchestersuiten und Oratorien – nichts, angesichts deren musikalischem Anspruch die Choreografen gesagt hätten: Hände weg – nicht einmal vor der „Kunst der Fuge“. In den fünfziger Jahren erfreuten sich Janine Charrats „Diagramme“ großer Beliebtheit. Benjamin Harkarvy war dann der erste, der sich beim eben gegründeten Nederlands Dans Theater in seinem „Recital für Cello und acht Tänzer“ der Cello-Suiten annahm. Später haben sich dann auch Lifar, Petit, Cranko („Brandenburg 2 & 4“), Béjart, Neumeier, Spoerli und Dutzend anderer Choreografen Bachs bemächtigt, doch nur selten mit zufrieden stellendem Ergebnis – bis hin zu Alain Platels jüngst für die Ruhr-Triennale kreierten „pitie!“ zu einem Verschnitt aus der „Matthäus-Passion“.

Auffallend immerhin das zunehmende Interesse der Choreografen an den „6 Suites a Violoncello Solo senza Basso“, komponiert 1720 in Köthen. Nach Harkarvy haben sich auch Lin Hwai-min und vor allem Spoerli ihrer angenommen. Und nun also Joachim Schloemer, mit seinem für das diesjährige Lucerne Festival kreierten „In Schnee“ – mit dem das von Schloemer „kuratierte“ pvc Ensemble jetzt seine Saison auf der Bühne des Großen Hauses in Freiburg eröffnete – samt drei sich abwechselnden Cellisten. Wie sich diese ambitionierte Musik-Tanz-Theater-Produktion ausnimmt, hat Marlies Strech in ihrer Kritik vom 17.8. im tanznetz beschrieben. Weswegen ich mich hier mit einem höchst persönlichen Kommentar begnügen möchte.

Außer Bach bezieht sich Schloemer auch auf Thomas Mann und das „Schnee“-Kapitel in seinem Roman „Der Zauberberg“. Es ist das negativste Beispiel einer Bach-Produktion, die ich in fünfzig Jahren auf dem Theater gesehen habe. Wäre nicht die Hoffnung gewesen, dass sich im zweiten Teil noch titelbezogen etwas ändert, wäre ich – wie viele andere Besucher – in der Pause gegangen. Irgendeine, auch kontrapunktische Beziehung zwischen den live gespielten Cello-Suiten und den Aktionen der sechs Tänzer habe ich nicht entdecken können – nicht zu Bachs Monumentalwerk und nicht zum Roman und seinen Helden Hans Castorp. Wenn Mann den in ein Lungensanatorium nach Davos schickt, so meint man angesichts dessen, was sich auf der Bühne tut, dass es sich um eine ausgesprochene Fehldiagnose handeln muss, denn Schloemers C. leidet eindeutig an Epilepsie. Sorry, aber was das mit Bach, Mann, Tanz, Theater oder einem Crossover aller Beteiligten zu tun hat, blieb mir verschlossen. Und so verbuche ich diesen Abend im Freiburger Theater als eine fast dreistündige Einbuße an Lebenszeit!

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