Die zwei Seelen, ach, in Carmens Brust

Mit der Uraufführung einer Eigenproduktion und einem Gastspiel aus Peking eröffnet Braunschweigs erstes Festival „Tanzwelten“

Braunschweig, 11/03/2008

Dass die Zeiten hart, die finanziellen Mittel knapp sind, hat in den letzten Jahren keine andere Theatersparte stärker spüren müssen als der Tanz. Doch nicht überall wird gespart. Am Staatstheater in Braunschweig, wo die österreichische Choreografin Eva-Maria Lerchenberg-Thöny zu Beginn der Spielzeit 2007/2008 ein Drei-Jahres-Engagement angetreten hat, billigte man der neuen Tanztheaterchefin nicht nur fünf Neuproduktionen pro Spielzeit zu. Man nötigte sie auch geradezu, sich ein Tanzfestival einfallen zu lassen. Denn hätte sie die überraschende Chance nicht beim Schopf gegriffen, wären die Gelder, die aus dem von Braunschweig aufgekündigten Vertrag für ein Tanzfestival mit dem Nachbarn Hannover frei wurden, für den Tanz verloren gewesen.

Lerchenberg-Thöny ließ sich etwas einfallen. Ihr Festival „Tanzwelten“, das in Zukunft jährlich stattfinden soll, versammelt – ihr eigenes Ensemble eingeschlossen – sieben Tanzkompanien aus ebenso vielen Ländern, und das Schöne daran ist, dass es sich nicht um die üblichen Verdächtigen handelt, die überall dort auftauchen, wo festlich getanzt wird, sondern um neue, in Deutschland ungekannte Truppen und Choreografen: die Compagnie Woenyo mit einer Arbeit des Choreographen Kikan Ayigah aus Togo, das Dansk Danseteater mit Stücken von Tim Rushton und Alessandro Pereira, die Terence Lewis Contemporary Dance Company mit Lewis’ „Surkh“ aus dem indischen Bombay, die ägyptisch-französische Gruppe mit „Les maux de soqoot el zakera (For the pains in the back!)“ von Mohammed Shafik und Laurence Rondoni sowie, last, but not least, das Projekt „Hanna Berger: Retouchings“, bei dem sich – auf Anregung der Kritikerin Andrea Amort – fünf jüngere österreichische Choreografen – Bernd R. Bienert, Manfred Aichinger, Rose Breuss, Nikolaus Adler, Willi Dorner – mit dem Werk der in Wien geborenen expressionistischen Tänzerin Hanna Berger (1910-1962) befassen.

Gleich das erste der Gastspiele, „The Cold Dagger“ der Beijing LDTX Modern Dance Company, erwies sich als eine Trouvaille. Die Truppe, 2005 gegründet, ist eines von drei Ensembles des aus Hongkong stammenden Choreografen Willy Tsao, der sich schon früh mit der Pekinger Führung arrangierte, nach der Rückgabe der Kronkolonie Hongkong zum wohl wichtigsten Vorkämpfer des zeitgenössischen Tanzes in der Volksrepublik China wurde und mittlerweile drei chinesischen Modern Dance-Kompanien vorsteht: seiner alten in Hongkong, der in Peking und der Guangdong Modern Dance Company in Guanzhou, der Vorreiterin des zeitgenössischen Tanzes auf dem chinesischen Festland. „The Cold Dagger“ ist allerdings nicht von Willy Tsao choreografiert, sondern von Li Han-Zhong und Ma Bo, einem jungen Ehepaar aus der Gruppe; auf Gastspielen, zumal im Ausland, hält sich der Chef ästhetisch vornehm zurück.

Den kalten Dolch des Titels findet man in der knapp fünfviertelstündigen Aufführung zu einer vom Cello dominierten Komposition des Amerikaners David Darling allerdings nicht; die Choreografen haben sich von dem komplizierten chinesischen Brettspiel Go, einem fast lebensechten Kampf um Territorien und die Vorherrschaft, inspirieren lassen. Go wird auf einem Brett mit 19 mal 19 Feldern gespielt. Die Bühne für „The Cold Dagger“ besteht normalerweise aus zehn mal zehn metergroßen Feldern; doch da die Bühne des Kleinen Hauses des Braunschweiger Staatstheater dafür zu schmal ist, war aus dem originalen Zehn-mal-zehn-Meter-Quadrat eine Fläche von neun mal neun Metern geworden. Die Tänzer sollen – zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiß kostümiert –Gosteine darstellen, zugleich aber auch die Spieler. Die Kostümbildnerin Zhao Jiapei hat die 14 Tänzer des Ensembles, dessen chinesischer Name „Rollender Donner unter dem Himmel“ sich in dem modernistischen Kürzel LDTX wieder findet, so gekleidet, dass die geschlechtlichen Unterschiede fast völlig verwischt sind, man muss schon genau hinschauen, um zu sehen, ob es sich bei dem Tänzer, der sich gerade solistisch in den Vordergrund spielt, um eine Frau oder um einen Mann handelt.

Die Stimmung ist durchweg elegisch; es scheint Trauer zu herrschen in einer Welt des Kämpfens, Leidens und Sterbens. Die virtuosen Bewegungen des ohne Handlung auskommenden Tanzspiels sind im Wesentlichen westlichen Modern Dance-Stilen entlehnt, aber mit Anleihen bei chinesischen Martial Arts-Formen wie Tai-chi oder Kung-Fu angereichert, und in der Mitte der Aufführung greifen Li Han-zhong und Ma Bo sogar auf jenes Spiel mit dem Band zurück, das seinen Eingang auch in die rhythmische Sportgymnastik gefunden hat, gewinnen ihm aber eine gänzlich neue Dynamik ab. Dabei sind Einflüsse berühmter Choreografen, von George Balanchine über Jiri Kylian bis zu Taiwans Lin Hwai-min, unverkennbar. Das Spiel scheint mit einer weiblichen Leiche zu enden, nimmt dann aber – die Tänzer haben sich bereits zum vermeintlichen Schlussapplaus verneigt – noch einmal Fahrt auf. Das verschwundene Ensemble hebt den Bühnenboden so an, dass die leblose Frau in seinem Zentrum nach hinten hinunter rutscht, und taucht aus den Bruchstellen des sich auflösenden Schachbrettmusters wieder auf; das Leben geht weiter, der Kampf endet nimmermehr.

Eröffnet wurde das Festival, im Großen Haus des Braunschweiger Staatstheaters, allerdings mit einer Eigenproduktion: der Uraufführung von Eva-Maria Lerchenberg-Thönys eigenwilliger „Carmen“. Die Choreografin benutzt als musikalische Unterlage Rodion Schtschedrins „Carmen-Suite“, interpoliert sie aber mit den dunkel klopfenden Akkorden, eher Tönen als Melodien, die sie sich von Georg Zeitblom neu hat komponieren lassen. Jeder Anklang an irgendeine Spanien-Folklore ist in dem 80-Minuten-Stück konsequent getilgt.

Für Lerchenberg-Thöny gibt es zwei Carmen: die aggressive, männermordende und die sanfte, liebesbedürftige; die Auseinandersetzung zwischen ihnen und mit ihrer Umwelt, spielt sich nicht in der Realität ab, sondern im Kopf. Ihre beiden Carmen (Daniela Indrizzi und Jana Ritzen) sperrt die Choreografin in eine allerdings riesige Gefängniszelle (Bühnenbild und Kostüme: Sascha Gross), in deren Hintergrund ein großes Bett steht; die Seitenwände fahren auf und ab und gewähren den restlichen Personen des Dramas und auch einer Art Chor Einlass. Schon nach wenigen Momenten vertauschen die beiden Carmen die graue Gefängniskleidung mit knöchellangen, leuchtend roten Schlabbergewändern; natürlich tanzen sie, wie alle anderen auch, barfuß. In der Folge entwickeln sich Schlachten zwischen den beiden Carmen und ihren Männern und ein Wettkampf zwischen beiden Frauen. Die sanfte Carmen scheint sich in einen ähnlich sanften Blonden (Jiri Kobyla als Don José) zu verlieben, die aggressive nimmt sich den als Popstar daher kommenden, von der Menge überwältigten Escamillo (Alfredo Gracia Gonzales) zur Brust, mit dem sich freilich auch die sanfte Schwester irgendwann einlässt. Als die aggressive Carmen sich aber den Don José krallt, kommt es zum Dreikampf, in dessen Verlauf die sanfte Carmen getötet wird, eher ein Unfall als ein Mord. Woraufhin die lebende Carmen die tote über die Bühne schleppt, bis sie unter Last zusammenbricht.

Choreografiert ist das durchgehend grandios; die hoch kochenden Emotionen sind in kühne Sprünge, Drehungen, Verwindungen, in heiße Kämpfe und ebensolche Liebesakte perfekt umgesetzt. Doch dramaturgisch verursacht mir diese „Carmen“ ästhetisches Bauchgrimmen. Dass die Choreografin auf ein folkloristisches Spanien mit Fächern und Flamenco-Elementen verzichtet hat, lässt sich als positiv verbuchen. Doch in der Verdoppelung bleibt von der echten Carmen wenig bis gar nichts übrig, und die Einführung einer dritten „Carmen als Kind“ (die abendfüllend mit einem Püppchen hantierende Krisztina Pasztory), die Carmens erotische Auffälligkeiten in einer Art Banal-Freudianismus auf eine frühkindliche sexuelle Erfahrung (wo nicht gar einen Missbrauch) zurückzuführen scheint, macht die Sache nicht besser. Das Publikum freilich reagierte euphorisch: nicht nur Beifall, sondern sogar Bravorufe und eine Standing Ovation; Braunschweig scheint sein Tanztheater zu lieben.

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