Ein Riesenvorbild

Sue Jin Kang erhielt den John-Cranko-Preis

Stuttgart, 20/11/2007

Der John-Cranko-Preis wird an Menschen verliehen, die sich „in besonderer Weise um John Cranko verdient gemacht haben“ - das hat Sue Jin Kang ohne Zweifel, seit Jahren ist sie, die koreanische Tänzerin, die erste Wahl des Stuttgarter Ballettdirektors bei allen Cranko-Wiederaufnahmen. Mag sie auch in modernen Balletten immer weniger zum Einsatz kommen, mag ihre Technik nie die brillanteste und exakteste gewesen sein - Sue Jin Kang besitzt etwas anderes, viel Wichtigeres, was unter den jungen Tänzern von heute fast zu verschwinden zu droht: den unfehlbaren dramatischen Instinkt und eine Natürlichkeit des Ausdrucks. Sie ist die Art von Tanzschauspielerin, ohne die Crankos Werke austrocknen und leblos werden.

Nach einer „Onegin“-Vorstellung überreichte ihr am Samstag die Stuttgarter John-Cranko-Gesellschaft die zum 19. Mal verliehene Cranko-Medaille, anschließend wurde im ersten Rang gefeiert. Erst im März war Kang auch zur Kammertänzerin des Staatstheaters ernannt worden. In ihrer Heimat ist die 40-jährige Ballerina ein Superstar - dort wartet man nur darauf, dass sie ihre Tänzerkarriere beendet, um die Leitung des Nationalballetts in Seoul zu übernehmen.

Seit Marcia Haydée sie 1986 aus Marika Besobrasovas Schule in Monte-Carlo nach Stuttgart engagierte, hat Kang ihre gesamte Karriere hier verbracht; anfangs wirkte sie oft ein wenig manieriert und gekünstelt, bis sie dann in den letzten zehn Jahren immer direkter auf ihre heutige Rolle als große dramatische Ballerina der Kompanie zusteuerte. Sie überzeugt in genau den Rollen, die Haydée früher getanzt hat, ohne sie je zu imitieren; 1997 stieg sie zur Ersten Solistin auf.

Was für eine Tänzerin dramatischer Rollen eigentlich eine Art Wettbewerbsnachteil sein muss, das wendete die schöne Asiatin auf geheimnisvolle Weise zu ihrem Vorteil: wie durch eine Laune des Schicksals hatte sie in all den Jahren nie einen festen Partner, immer hörte jemand auf oder verließ die Kompanie. Ob Ivan Cavallari, Tamas Detrich, Roland Vogel, Robert Tewsley, Filip Barankiewicz, Jason Reilly, Jiří Jelinek, Marijn Rademaker oder Friedemann Vogel: ausnahmslos gingen sie gestärkt aus der Partnerschaft mit Sue Jin Kang hervor, sie zog sie unweigerlich in ihre Dramatik, in ihre tiefe Emotionalität hinein und machte sie zu besseren, reiferen Tänzern.

Kang sei „ein Riesenvorbild für meine jungen Leute“, sagte dann auch Ballettchef Reid Anderson in seiner etwas improvisierten Laudatio. Einige Jahre wird sie hoffentlich noch tanzen, die anderen Stuttgarter Ballerinen brauchen sie dringend, um aus ihren Interpretationen zu lernen. Es wäre schön, Sue Jin Kang in den nächsten Jahren nicht nur als Julia, Tatjana und Katharina zu erleben, sondern auch noch einmal in solchen Rollen, die durch ihr Karriereende eine große Interpretin verlieren werden - in „Das Lied von der Erde“, in „Poème de l’Extase“ oder in der lange überfälligen Wiederaufnahme von MacMillans „Requiem“ zu Crankos Tod.

 

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