John Neumeiers große dänische Confessio

Hamburgs Ballett-Intendant beim Kopenhagener Bournonville-Symposium

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Stuttgart, 02/01/2007

Ja, wo leben wir denn? Hinter dem Mond? In der tiefsten Ballett-Provinz? Über ein Jahr nach dem Ereignis erfahren wir endlich von dem Beitrag John Neumeiers beim Kopenhagener Symposium über „Bournonville – Past, Present and Future“ im August 2005. Kein Wunder, denn der Bericht nahm den Weg über Amerika. Dort ist er im „Dance Chronicle“, in der Nummer drei des 29. Jahrgangs, erschienen. Es ist ein dickes Heft, herausgegeben von George Dorris und Erik Aschengreen, 209 Seiten stark, mit allen Referaten und den Diskussionen des Symposiums. Vierzehn Seiten umfasst das Gespräch, das der dänische Kritiker Aschengreen mit Neumeier geführt hat – das Thema: „Working in the House of Bournonville, 1974 – 2005“.

Neumeier berichtet darin über seine Erfahrungen bei der Arbeit mit dem Königlich Dänischen Ballett, von der Einstudierung seiner „Romeo und Julia“-Version bis zur Kreation von „The Little Mermaid“. Anschließend beantwortete er noch Fragen von Clive Barnes und einer dänischen Symposiums-Teilnehmerin. Zusammengefasst kann man sagen, dass sich Neumeiers Kommentare zu einer großen Confessio seiner Ballettästhetik addieren, wie sie mir in dieser Konzentration noch nirgends begegnet ist. Weswegen eine Veröffentlichung in deutscher Sprache dringend zu wünschen wäre.

Am Anfang stehen seine Erinnerungen an die erste „Romeo und Julia“-Produktion, die er gesehen hat. Das war die Ashton-Version 1956 beim Gastspiel der Dänen in Chicago, da war er also gerade vierzehn. Die nächste Station war dann sein Studienaufenthalt in Kopenhagen und seine Gespräche mit seiner Lehrerin, Vera Volkova. Zur ersten Zusammenarbeit mit den Dänen kam es dann 1974 bei der Einstudierung seiner „Romeo und Julia“-Produktion, ein Jahr nach seinem Hamburger Engagementsantritt. Was ihn besonders beeindruckt hat, war die dramatische Intensität der Zusammenarbeit – „eine Art außerordentliche Liebesaffäre ... Man findet heute kaum noch Tänzer, die den Zusammenhang von Emotion und Motion verstehen, sagen wir, die physische Motion, die aus einer emotionalen Quelle kommt. Dieses Konzept war immer wichtig für mich.“ Seither besteht ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Neumeier und den Dänen.

Neumeier wurde dann befragt, wie er sich als Geschichtenerzähler zu Bournonville verhält. In seiner Antwort kommt er auf die verschiedenartigen Erwartungen zu sprechen, die die unterschiedlichen Zeitalter an die Künste stellen, auf den Vormarsch des Realismus und den gewandelten Formbegriff gerade im großen dreiaktigen Handlungsballett. Und warum hat er bisher wohl Petipa- und Iwanow-Ballette, aber keine Bournonville-Choreografien einstudiert? Die Antwort darauf ist kompliziert: „Wenn ich das Material eines Bournonville-Balletts begutachte, muss ich zuerst entscheiden, was die Essenz des betreffenden Werkes ist – ja, was ist ‚klassisch‘ daran? Wovon lasse ich lieber die Finger, um nicht die essenzielle Natur des Werkes zu zerstören. Und das ist eine sehr komplexe Frage im Falle von Bournonville.“ Weiter ging das Gespräch über die Zukunft des Balletts, die Neumeier vor anderen Aufgabenstellungen als in der Vergangenheit sieht. Berührt wurden auch die Unterschiede, die der Betrieb an das Schauspiel-, das Opern- und das Ballettrepertoire stellt.

Die Schlussfrage stellte Eva Kistrop: „Wenn jemand in hundertfünfzig Jahren ein Ballett von Ihnen produzieren will, wieviel Änderungen würden Sie zulassen? Wieviel ist heilig? Und würden Sie wünschen, dass man Sie noch aufführt?“ Darauf Neumeier: „Zum Beispiel die ‚Dritte Sinfonie‘ von Mahler – oder ‚Le Sacre‘. Der choreografische Text ist exakt. Es gab nie eine Änderung an einem Schritt. Von Anfang an bis zum Ende weiß jeder genau, was er zu tun hat. Was sie fühlen, wenn sie ihn ausführen, kann durchaus vollständig verschieden sein von dem, was wir gefühlt haben, als ich es vor dreißig Jahren choreografiert habe. Das ist etwas, was in Zukunft geschehen kann und sicher der Fall sein wird. Ich denke, dass in anderen Dingen, wenn jemand sich des Werkes annehmen würde, sich daran erinnerte, Videos davon sehen, darüber lesen würde, oder was ich damit sagen wollte, und dann etwas vollständig anderes tun würde – würde ich wohl darüber lächeln. Denn es würde ja bedeuten, dass das Stück noch am Leben wäre, dass man sich noch daran erinnerte. Und dass es einen anderen Künstler zu einer anderen Zeit inspirieren würde. Weil für einen Künstler die bewegendsten Momente sind, wenn einem ein anderer Künstler ein Kompliment macht – einem sagt, weil ich Ihr Ballett sah, schuf ich dieses besondere Werk. ... Ich denke, dass dieser Austausch von Inspiration zwischen Künstlern ein wunderschönes Phänomen ist. Wenn also jemand käme und sagte, ich mache etwas Komisches, wäre ich nicht der Meinung, dass das schlimm wäre. Sicher gäbe es bestimmte Bewegungen, von denen ich mir wünschte, dass sie so blieben wie sie sind. Gleichzeitig bin ich menschlich genug, zu akzeptieren, dass das nicht der Fall sein kann ... Also um Ihre Frage kurz zu beantworten, ich denke, alles in allem wäre ich glücklich, einen anderen Choreografen zu inspirieren, seinem eigenen Instinkt zu folgen.“

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