Im Zeichen von Abschied und Neubeginn

Das neue Ballettprogramm: zwei Junioren mit Uraufführungen: Jiří Bubeníček und Felipe Portugal, gefolgt von zwei Klassikern: Heinz Spoerli und Nils Christe

oe
Zürich, 08/09/2007

Und wieder beginnt das Opernhaus Zürich die neue Spielzeit mit einer Ballettpremiere. Dies ist schon die vierte Vorstellung innerhalb von einer Woche (und morgen gibt‘s bereits eine Wiederaufnahme des „Nussknacker“). Das Haus: nicht ausverkauft, aber doch gut gefüllt – und sehr beifallsfreudig. Alles wie gehabt also. Und doch eine Zäsur. Sonst hatte sich Spoerli für diese Abende, an denen das Orchester noch nicht zur Verfügung steht, mit kammermusikalischen Stücken begnügt, die durchweg live musiziert wurden. Diesmal allerdings kam die Musik aus dem Lautsprecher. Eine Einbuße an musikalischer Qualität fraglos – etwas verwunderlich bei einem Intendanten, der sonst größten Wert auf höchste musikalische Qualität legt.

Eine Zäsur aber auch hinsichtlich des Personals mit über zwanzig neuen Tänzern – das ist weit mehr als die übliche Fluktuation beim Spielzeitbeginn. Die meisten Novizen kommen immerhin aus der Junior-Kompanie, sind also mit dem Stil der Truppe bereits halbwegs vertraut. Das zahlt sich aus. Natürlich bestätigen die alten (Nicht-)Stars ihren Sonderrang: Pilar Nevado, Yen Han, Stanislav Jermakov, Iker Murillo, Arman Grigoryan, Vitali Safrokine ... Aber die Neuen sind bereits so maßgerecht integriert, dass es kaum möglich ist, sie von den Etablierten zu unterscheiden. Bis auf einen: den aus Nowosibirsk hinzugestoßenen Semyon Chudin, ein Prinzentänzer comme il faut, den ein sehr geschätzter französischer Kollege bereits für einen zwanzig Jahre jüngeren Malakhov hält. Die Kompanie tanzt wie aus dem Ei gepellt. Inklusive der sensationellen Jungen-Equipe aus Eriwan (die alle als blutjunge Anfänger nach Zürich kamen und dort an der Ballettschule ihren Schliff bekamen).

Zum Programm: musikalisch reichlich buntgescheckt – von Bach/Pachelbel (samt elektronischer Zusatzgeräusche von Bruder Otto) in Jiří Bubeníček „Le souffle d‘esprit“ via John Adams (offenbar unvermeidlich heutzutage) in Felipe Portugals „Road B. (und warum nicht C oder D?), über Alban Berg (das Präludium aus den Orchesterstücken op. 6 und die Altenberg-Lieder) in Spoerlis „Abschied“ bis zu Bohuslav Martinus Doppelkonzert für Streicher, Klavier und Pauken in Nils Christes „Before Nightfall“ – eine dramaturgische Stringenz konnte ich nicht entdecken.


Bubeníček „Souffle d‘esprit“ ist ein strikt an der Musik entlang choreografiertes Ballett im reinsten Neoklassizismus (auf halber Spitze) von wunderbar kantilenenhaftem Fluss, einschließlich der Satzübergänge: eine Huldigung an „La bella danza“ (als tänzerisches Äquivalent zum Belcanto). Nicht recht passend dazu: die riesigen Projektionen von Rötelzeichnungen Leonardo da Vincischer Madonnen – da hätte ich mir lieber die Konstruktionsskizzen für seine Flugversuche gewünscht. Das kommt unübersehbar aus der Neumeier-Schule – von exquisiter ästhetisch-musikalischer Qualität. Von dem intendierten Beat-Anspruch in Felipe Portugals „Road B.“, der sich offenbar auf Jack Kerouacs Kultroman „On the Road“ (deutsch: „Unterwegs“) bezieht, habe ich nichts bemerkt: eine hübsche Nichtigkeit in den bonbonfarbigen Kostümen von Regula Mattmüller für drei Tänzerpaare, leicht sportiv timbriert, ein bisschen erotisches Petting – mir zu harmlos. Etwas schräger hätte es ruhig sein können.

Dann wurde es ernst. Spoerli hat seinen „Abschied“ 1985 für Wolfgang Gönnenweins ersten Ballettabend in Stuttgart kreiert (mit Birgit Keil, Richard Cragun und Tamas Detrich) – neben John Alleyne und Hans van Manens gerade kürzlich erst wiederaufgenommenem „Corps“. Es ist ein ziemlich sperriges Stück – wie die Musik von Alban Berg – wie die doch reichlich verschrobenen Liedertexte von Peter Altenberg. Für diese Neueinstudierung nach zwanzig Jahren von Spoerli in einen klaustrophobischen Raum verlegt, der mir wie der Wartesaal im Badischen Bahnhof von Basel vorkommt. Es ist eins von Spoerlis atmophärisch dichtesten Balletten, das sich weniger auf die Strukturen der Musik einlässt – umso mehr auf deren Wiener Fin-de siècle-Dekadenz. Man denkt an Klimt und Freud, auch an Schnitzler und ihre Einsamkeits- und Isolationsphobien. Ein Quintett der psychologischen Frustrationen von Personen, die einander zustreben und doch nicht zusammenkommen können. Eine Choreografie wie mit einem Fieberthermometer geschrieben – aufgezeichnet sähe sie wohl wie ein Kardiogramm aus. Fünf Personen, die fünf individuelle Befindlichkeiten verkörpern, von Sarah-Jane Brodbeck und Stanislav Jermakov, Yen Han und Semyon Chudin nebst Galina Mihaylova mit beklemmender Intensität getanzt. Na ja – vielleicht doch nicht so sehr den Basler Bahnhof, sondern das Wartezimmer in Sigmund Freuds Praxis in der Berggasse 19 im IX. Wiener Bezirk suggerierend.

Und zum Schluss also Nils Christes „Before Nightfall“ – übrigens aus dem gleichen Jahr 1985 wie Spoerlis „Abschied“, kreiert für die Pariser Opéra. Auch dies ist ein Katastrophenstück – von Martinu komponiert am Vorabend der Vereinnahmung der Tschechoslowakei durch die Nazis – von Christe entsprechend dunkel getönt (auch in den Kostümen von Keso Dekker), gespeist aus dem reichen tänzerischen Erfahrungsschatz des damals gerade Mittzwanzigers (van Manen, Kylián). Es ist ein spannendes großes Kompanieballett – an dessen zweitem Satz Felipe Portugal (mit Yen Han als Partnerin) auch als Tänzer beteiligt ist. Fünf Vorstellungen in neun Tagen – und das zu Beginn einer neuen Spielzeit, an dem das Publikum noch nicht so die rechte Lust hat, ins Theater zu gehen. Das soll dem Zürcher Ballett erst einmal eine unserer Opernballettkompanien nachmachen!

 

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