„Fiesta – Flamenco, Rituale, Mysterien“

Neues Tanzstück von Tarek Assam und Fabrice Jucquois im Stadttheater Gießen

Gießen, 02/10/2007

Einen Abend lang Spanien auf der Bühne des Stadttheaters Gießen: Flamenco, Rituale und Mysterien. Und alles gesehen aus der Perspektive eines Fremden, denn das neue Tanzstück, das unter Leitung des Gießener Tanzdirektors Tarek Assam entstand, war die Erzählung „Fiesta“ von Ernest Hemingway. „Fiesta“ bedeutet Feier und zwar in allen Bereichen des kulturellen Lebens, wie Assam und sein Ko-Choreograph Fabrice Juquois lernten bei ihrer Vorbereitung auf das Thema. Juquois war bereits in der letzten Spielzeit bei „Grenzgänge“ mit dabei. Hatten die beiden dafür die Szenen noch abwechselnd choreographiert, so haben sie dieses Mal alles gemeinsam entwickelt. „Die Zukunft des Tanzes liegt in der Kooperation“, davon ist Tarek Assam überzeugt, der diese Praxis seit langem umsetzt. Das knapp zweistündige Stück „Fiesta“ hatte am Sonntagabend Premiere vor vollem Haus und wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.

Der Fremde ist im Bild, sprich auf der Bühne in Gestalt eines Tänzers, aber das Fremdsein gilt auch für das Publikum. Distanziertheit gibt schon das Bühnenbild von Lukas Noll vor, es erlaubt keinerlei Sich-Einlassen auf ein folkloristisches Spanien-Urlaubs-Gefühl, trotz der Flamenco-Tänzerin „La Centella“. Auf dem weißen Boden erheben sich in den hinteren Ecken und am vorderen linken Bühnenrand weiße Eisfelsen, die Kühle und Einsamkeit suggerieren. Ein übergroßer Ballon dient nicht nur als Leuchtkörper, sondern wird flexibel eingesetzt als Projektionsfläche oder als Blauer Mond, den sich die Liebenden vom Himmel holen. Das alles inmitten des kargen Bühnenraums mit seinen schwarzen, ungeschönten Wänden. Nur ein Pferd steht einsam im Hintergrund und wird im Laufe des Stücks mit Blumengirlanden behängt; über seine Symbolik lässt sich trefflich spekulieren, wie Pausengespräche bewiesen.

Arthur Zakirov ist der weiß gekleideten Fremde, der nicht alles versteht, was er sieht, der sich staunend treiben lässt durch die verschiedenen Feste wie Karneval, Marienprozession und Stierkampf. Der letztlich an seiner Unbedarftheit und seinem Wagemut scheitert, weil er die Grenzen der Kultur zu schnell überschreitet und sich gar zum Torrero aufschwingt. Den Tod bringt eine Frau. Auch das ein Klischee, das sich allerdings durch die gesamte europäische Literatur zieht.

Liebe und Begehren sind das zentrale Thema der Gruppenchoreografien, die sehr körpernah, mit viel Gefühl und schauspielerischen Elementen getanzt werden. Carine Auberger ist die Geliebte, die mal verführerisch und geschmeidig, dann wieder abweisend und hohnlachend mit dem verwirrten Fremden umgeht, also in bester Carmen-Tradition unabhängig bleibt. Wie ein Geist huscht die kleine, biegsame Miranda Glikson durch die meisten Szenen, als El Espíritu begleitet sie den Fremden, treibt ihn sogar an. Sie taucht schon am Anfang im Torrero-Jäckchen auf, als die Szene noch „Anfang und Geburt“ heißt, um in einer der letzten Szenen in der prächtig-bunten Tracht der Spanierin den Fremden ritualisiert ins todbringende Torrero-Kostüm zu kleiden.

Der erste Auftritt der Flamenco-Tänzerin „La Centella“, die zu jeder Vorstellung eigens aus Köln anreist, wirkt merkwürdig fremd. Wie sie da allein auf der leeren Bühne ihre ritualisierten Bewegungen vorführt, - die Musik ertönt aus dem Lautsprechern -, da wird deutlich wie wichtig die Kommunikation mit Sänger/in und Gitarristen ist, um die mitreißende Lebendigkeit dieses Tanzes entstehen zu lassen. Erst im zweiten Teil des Abends nimmt sie tänzerisch das Gespräch auf mit den beiden Liebenden, scheint ihnen mit der temperamentvollen Sprache ihrer Hände und Füße die Variationsbreite menschlicher Gefühle klarmachen zu wollen. Natürlich erhält sie spontanen Applaus.

Die gesamte Atmosphäre wird getragen von der interessanten Auswahl spanischer Musik, die von typischer Flamencomusik, mal von der Stimme, mal von den Gitarren dominiert, über klassische Kompositionen von Manuel de Falla bis zu Hispano-Pop reicht. Surreale Momente entstehen in Zeitlupenszenen bei geheimnisvollem Licht, durch Projektionen von Augen oder krabbelnden Bienenvölkern; Dalí und Man Ray lassen grüßen. Und Goyas „Maja“ liegt gemütlich auf den Eisschollen im Hintergrund. Für die Karnevalszene konnte Ausstatter Noll seiner Fantasie freien Lauf lassen: das kuriose Gespann Don Quijote und Sancho Pansa treibt seine Feldforschungen, unglaubliche dicke Figuren tapsen und fallen über die Bühne, doppelgesichtige Marktfrauen streiten um einen Tomatenkorb. Das offen sexualisierte Treiben erinnert an die christlichen Todsünden, die bekanntlich im Karneval gefahrlos (aber nicht folgenlos) ausgelebt werden dürfen. Der Fremde ist überfordert von all dem Geschrei; genau so wie es Hemingway in „Fiesta“ beschreibt.

Die derzeit elf Mitglieder des Gießener Tanzensembles hatten gerade mal sechs Wochen Zeit, um zu einer Kompanie zu werden. Diese Aufgabe haben sie mit Bravour gemeistert. Zu denen, die seit mehreren Spielzeiten in Gießen sind, oder für einzelne Projekt wie die TanzArt ostwest hinzustießen, gehören: Miranda Glikson, Svende Obrocki, Antonia Heß, Kai Guzowski und Paul Zeplichal. Neu dabei sind die Hauptdarsteller: Arthur Zakirov und Carine Auberger, außerdem Anuschka Moccetti, Masami Sakurai, Eric Reisinger, Hirotaka Seki. Es ist ein kurzweiliger Tanzabend, einer der opulentes Sehfutter und dazu geistige Nahrung bietet. Die mitgenommenen Fragen regen zum Nachdenken an und animieren, das Stück mindestens noch einmal zu besuchen.


Die nächsten Vorstellungen: 6. und 19. Oktober, 10. November. 
www.stadttheater-giessen.de

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