Ein Spuk aus dem Norden

Das Hamburger Ballett beginnt seine Residenz mit John Neumeiers „Lieder der Nacht“

oe
Baden-Baden, 05/10/2007

Was Baden-Baden und Saratoga Springs gemeinsam haben? Der amerikanische Kurort in der Nähe New Yorks ist durch seine 122 natürlichen Mineralwasserquellen im 19. Jahrhundert bekannt geworden und hat eine wohlhabende Klientel angezogen – eine beliebte Sommerresidenz mit einer der berühmtesten Galopprennbahnen der Welt. Ob es auch ein Casino hat, weiß ich nicht. Jedenfalls erscheint das New York City Ballet dort allsommerlich zu seiner Ballett-Saison. Wie das Hamburger Ballett seit 1998 in Baden-Baden. Und zwar nicht bloß für eine oder zwei Vorstellungen, sondern eine ganze Woche lang. Welche andere deutsche Opernballettkompanie kann damit konkurrieren? Und so haben die Baden-Badener und ihre zahlreichen internationalen Gäste über die Jahre einen großen Teil des Hamburger Neumeier-Repertoires zu sehen bekommen – darunter so gewichtige Uraufführungen wie „Tod in Venedig“ und „Parzival – Episoden und Echo“.

Sie kennen also inzwischen ihren Sir John von der Alster und so konnte er es wagen, die diesjährige Herbst-Stagione mit seinen „Liedern der Nacht“ zu eröffnen – seinem vielleicht sperrigsten Ballett überhaupt mit den vorangestellten Chopin-„Nocturnes“ und – als Hauptwerk – „Nachtwanderung“ zu Gustav Mahlers VII. Sinfonie. Während der Chopin – von Michal Bialk mit feinster Sensibilität geradezu exorzistisch aus seinem seitwärts auf der Bühne postierten Flügel beschworen – sich in dem Riesenraum des Festspielhauses ziemlich verloren präsentierte und so noch anämischer und blutleerer wirkte als ohnehin, entlud sich die leider nur via Lautsprecher projizierte Mahler-Sinfonie (ohne Angabe des Dirigenten und Orchesters auf dem Besetzungszettel) mit der elementaren Gewalt eines Tornados.

Ich kann nicht behaupten, dass mich das Kammerspiel-Ballett der „Nocturnes“ in Baden-Baden mehr überzeugt hätte als bei der Uraufführung in Hamburg (siehe kj vom 5.12.2005). Es bleibt ein manieristisches Trockenexercise für fünf exquisite Tänzerpaare, die nichts so sehr weckt wie die Sehnsucht nach – nicht unbedingt Fokines „Les Sylphides“ (die, man weiß es inzwischen, nicht gerade zu meinen Lieblingsballetten gehören), sondern nach Robbins‘ so ungemein lebensvollen „Dances at a Gathering“. Wie es allerdings von den Hamburgern getanzt wird, stellt es eine glänzende, auf feinstem Bütten gedruckte Visitenkarte der Hamburger dar – an ihre Noblesse und Kultiviertheit reicht keine unserer anderen Kompanien heran.

Und danach dann also der Brocken der „Nachtwanderung“, der ja schon rein musikalisch genügend Rätsel aufgibt, auf die Neumeier dann noch seine enigmatischen Bilder türmt. Lichten sie sich auch zumindest ein bisschen bei mehrmaligem Hören und Sehen, so bleibt doch ein enormer Rest an Unerklärlichem in diesem Kaleidoskop der Zeiten, Stile und Referenzen: wahrlich die fantastische Nachtwanderung eines gewissen Monsieur Callot in den Spuren von Goya, E.T.A. Hoffmann und eben Mahler – ein Kabinett der Spukgestalten des Doktor Caligari.

Es ist sicher Neumeiers reichste Choreografie – und auch seine komplexeste – eine enorme Herausforderung für die Tänzer, technisch wie ausdrucksmäßig – aber eben auch für das Publikum (wenn sich das nicht sogar überfordert fühlt). Und sie bewältigen sie mit Bravour – besonders eindrücklich Joëlle Boulogne, die mit ihrem (Leichen?)Tuch wie ein Todesengel (Alma Mahler?) durch das Stück geht, der permanent unter Hochspannung stehende Alexandre Riabko und Lloyd Riggins als die skurrilste Figur, eine Art Spitzwegpoet mit einer Prise Chaplin. Doch sie nennen, heißt den anderen Unrecht tun, denn sie stürzen sich ausnahmslos alle in ihre minutiös durchgezeichneten Rollen, diese hanseatischen Sendboten aus dem Norden, die hier, am Rande des Schwarzwalds, längst zu Tänzer-Ehrenbürgern geworden sind.

 

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