„Wenn alle Künstler zu Lehrern werden, gibt es irgendwann keine Kunst mehr”

Ein Interview mit Xavier Le Roy

Berlin, 26/11/2007

Wenige Choreografen haben den Blick auf den zeitgenössischen Tanz so grundlegend revolutioniert wie der Franzose Xavier Le Roy. Seit Mitte der 90er Jahre stellt er mit seinen – meist in Deutschland entstandenen - Arbeiten Repräsentationscodes, Körperbilder und den ehernen Begriff der Autorenschaft in Frage. Als strenger Kritiker kultureller Subventionssysteme hat er immer wieder deren Willkür und Gießkannenhaftigkeit angeprangert. Parallel zu seiner künstlerischen Forschung zu Wahrnehmung und Bewegung ist Le Roy in den letzten Jahren zunehmend auch pädagogisch tätig.

Frank Weigand traf den vielbeschäftigten Künstler in Berlin und sprach mit ihm über den französischen Studiengang EX.ER.CE, das plötzliche Interesse an der Pädagogik im Tanz und die Reaktionen auf seine jüngste Produktion „Le Sacre du Printemps”.

Frage: Du bist gerade „artiste associé” am Centre Chorégraphique in Montpellier. Was ist das genau für ein Status – und wie sieht die pädagogische Arbeit aus, die damit verbunden ist?

Xavier Le Roy: Ende 2005 haben mir Mathilde Monnier und ihr stellvertretender Direktor Jean-Marc Urréa angeboten, ab 2007 für zwei Jahre „artiste associé” zu werden. Dieser Status ist sehr weit gefasst und mit keinen besonderen Erwartungen an mich verbunden – außer, dass Mathilde wollte, dass ich mich um die Organisation des Ausbildungsprogramms EX.E.R.CE kümmere. Und da mich das interessierte, war das keine unangenehme Pflicht.
Abgesehen davon geben sie mir pro Jahr 60.000 Euro, um meine eigenen Arbeiten zu produzieren. Das ist natürlich ein unglaublicher Luxus. Ich musste keinen Antrag schreiben und habe keine Abrechnung zu machen. All meine Energie fließt direkt in die Arbeit.

Frage: Was genau ist das Programm EX.E.R.CE?

Xavier Le Roy: EX.E.R.CE ist im weitesten Sinne ein Postgraduierten-Studium für 15 Studenten. Das Besondere daran ist, dass es mit keinem Diplom verbunden ist. Die Leute verbringen sieben Monate in Montpellier, aber die Ausbildung wird nirgendwo anerkannt – weder in Frankreich, noch sonst wo in Europa. Sie ist auch überhaupt nicht universitär. Das hat Nachteile, was die finanziellen Mittel angeht, die einem zur Verfügung stehen. Aber der große Vorteil ist: Es eröffnet bestimmte Möglichkeiten, dieses Programm sehr experimentell zu gestalten.

Frage: Und wie sah das Programm aus, das du gestaltet hast?

Xavier Le Roy: Das Programm für das letzte Jahr, war sehr auf dem Gedanken aufgebaut, selbst und eigenverantwortlich zu lernen. Es ging darum, so viele Fragen wie möglich darüber auszulösen, was Pädagogik ist, was Ausbildung, wie man lernt, warum man lernt, was das eigentlich ist, was man da lernt, und was man zu lernen erwartet. Es gab drei große Arbeitsrichtungen. Zuerst einmal hatten die Studenten Räume und Zeit für ihre Arbeit. Dort konnten sie – wie wir es nannten „machen und zeigen”, d. h. soviel wie möglich erarbeiten und es sofort vorführen. Die andere Arbeitsrichtung war viel konventioneller: Ein Künstler kommt für zwei oder drei Wochen und unterrichtet. Dazu hatte ich Leute eingeladen, die mir nahestehen, mit denen ich gerne etwas teilen wollte. In der dritten Arbeitsrichtung ging es um Formen der Ausbildung, um die Frage danach, was „Lernen” ist. Wir organisierten eine zweiwöchige Begegnung zwischen unseren Studenten und den Studenten von PARTS, während derer sie sich gegenseitig unterrichteten. Dieses Hinterfragen des Lernens an sich setzte sich auch bei TANZ IM AUGUST fort, wo die Studenten in Eigenregie eine Plattform für Austausch und gemeinsame Arbeit organisierten.

Frage: Wann hast du damit angefangen, zu unterrichten, Workshops zu geben?

Xavier Le Roy: Das war 2004. Jahrelang hatte ich gesagt: Nein, ich unterrichte nicht. Ich weiß nicht, was ich unterrichten sollte. Ich habe keine Methode, keine Technik. Irgendwann dachte ich, dass ich es mir damit vielleicht ein bisschen zu einfach machte. Also sagte ich mir: Was kann ich aus der Tatsache machen, dass ich nicht weiß, was ich unterrichten könnte? Dabei hat mir die Lektüre des „Unwissenden Lehrmeisters” von Jacques Rancière sehr geholfen. Es war interessant, Pädagogik als eine Sache des Austauschs zu sehen, als ein „ich werde ihnen etwas beibringen, das ich nicht weiß.” So begann ich über Vermittlung nachzudenken, über die Frage, was für mich das Spezifische von choreographischer Kunst ist. Eines dieser Spezifika ist die Arbeit zu mehreren, und die geschieht immer dadurch, dass man einander Anweisungen gibt. Am Anfang steht man immer an diesem Punkt, wo man sagt: So, was machen wir? Schließlich gelang es mir, zu formulieren, wie eine Arbeitsmethode dabei helfen kann, anders zu produzieren. Das war meine Hypothese: Man muss daran interessiert sein, seine Arbeitsweise in Frage zu stellen. Und genau das hat bewirkt, dass ich akzeptiert habe zu unterrichten.

Frage: Gibt es für dich eine Verbindung zwischen deiner pädagogischen und deiner künstlerischen Arbeit?

Xavier Le Roy: Ja, auf jeden Fall, aber weniger in Bezug auf Inhalte, die Arbeit an bestimmten Themen. Aber generelle Fragen, wie man zusammenarbeitet, wie man unterschiedliche Formen des Austauschs finden kann – das auf jeden Fall, das durchdringt alles, mit dem ich mich beschäftige. Deshalb habe ich auch die nächste Ausgabe von EX.E.R.CE an ein anderes Projekt angedockt, das den Titel „6months/one location” trägt. Dabei kommen von Juli bis Dezember 2008 zehn Künstler in Montpellier zusammen, jeder mit einem Projekt. Jeder von uns ist für sein eigenes Projekt verantwortlich und nimmt gleichzeitig an zwei anderen Projekten teil. Es geht darum, Arbeitsbedingungen zu schaffen, und zu untersuchen, was diese Arbeitsbedingungen hervorbringen werden. Und die zehn Teilnehmer an EX.E.R.CE 08 werden aufgefordert, genauso zu funktionieren. Das heißt, nächstes Jahr wird jeder von ihnen mit einem Projekt kommen, für das jeder einzelne selbst verantwortlich ist und, in das sie andere einbeziehen sollen. Der Gedanke dabei ist, dass wir da sein werden, um ihnen zu helfen und um einen Austausch zu versuchen, indem wir an ihren Projekten teilnehmen. Anstatt wie sonst ein ständiges Kommen und Gehen von Dozenten zu haben, werden wir alle 6 Monate lang ständig da sein. Das alles ist ein großes Experiment.

Frage: Spätestens seit dem Film RHYTHM IS IT ist das Thema Tanz als pädagogisches Instrument sehr populär geworden. Eine der Hauptstoßrichtungen des TANZPLAN DEUTSCHLAND ist die Unterstützung von Schul- und Ausbildungsprojekten. Was denkst du darüber?

Xavier Le Roy: Das große Problem ist leider, je mehr man das generelle Interesse den Fragen von Pädagogik und Unterricht zuwendet, desto mehr entwickelt es sich auf etwas zu, das sich vom Produzieren von Kunst entfernt – denn ich sehe nicht, dass gleichzeitig mehr Mittel für Produktion kommen. Das finde ich etwas kritikwürdig an den Mitteln, die der TANZPLAN zur Verfügung stellt. Pädagogik ist eine tolle Sache. Aber meiner Meinung nach ist es ein Irrtum, da so viele Mittel hineinzustecken, wenn nicht gleichzeitig ebenso viel Mittel in die künstlerische Produktion der unterstützten Städte investiert werden. Kunst zu unterrichten ist nicht das Gleiche wie Kunst zu machen. Wenn alle Künstler Lehrer werden, gibt es – wenn man ein bisschen übertreibt – irgendwann keine Kunst mehr.

Frage: Sprechen wir also von deiner künstlerischen Aktivität. In „Sacre du Printemps” untersuchst du anhand der Figur des Dirigenten die Wechselwirkung zwischen Musik und Bewegung. Nach 8 Jahren ist das das erste Stück, wo du offiziell wieder als dein eigener Interpret auf der Bühne stehst. Was hat dich dazu bewogen?

Xavier Le Roy: Ganz zu Anfang des Projekts hatte ich mir gedacht, man könnte doch einen echten Dirigenten nehmen, ihn an der Partitur arbeiten lassen, ihn dann auf die Bühne stellen – und fertig. Was mir dabei aber fehlte, war die Arbeit an der Frage der Bewegungsqualität und der Beziehung zwischen Bewegung und Musik. Eine Möglichkeit, wirklich daran zu arbeiten, war also, es selbst zu machen. Ich war mir aber überhaupt nicht sicher, ob ich es schaffen würde, da ich kein Musiker bin und ich nicht genau wusste, ob ich in der Lage sein würde, eine Partitur zu lernen. Aber gleichzeitig fühlte ich mich angezogen. Es war eine Sache des Verlangens danach, mich selbst zu dieser Musik zu bewegen. Ich hatte das Bedürfnis, mich von etwas durchdringen zu lassen, diese Erfahrung zu machen. Und schließlich gelang es mir, zu lernen, und alles wurde immer spannender.

Frage: Ist das derselbe Begriff des Lernens wie in der Pädagogik?

Xavier Le Roy: Das ist für mich etwas Grundlegendes. Ich mag diese Arbeitsrichtung gerne, die sich mit der Frage nach Forschen und Lernen beschäftigt. Es fällt mir schwer, die beiden voneinander zu trennen. Und hier stürze ich mich in etwas rein, mit dem ich mich überhaupt nicht auskenne. Also ging es wirklich darum, Dinge anzuwenden, zu denen ich auch die Studenten bei EX.E.R.CE aufgefordert hatte. Das ist etwas, das ich das ganze Jahr über praktiziert habe. Während die Studenten an ihren Projekten arbeiteten, arbeitete ich in Montpellier an diesem Stück. Wir tauschten uns regelmäßig aus, ich zeigte ihnen Ausschnitte, sie stellten mir Fragen. In gewisser Weise hatte ich das Gefühl, genauso – oder zumindest ähnlich zu arbeiten wie sie.

Frage: Nach der Aufführung von „Sacre” in Berlin habe ich mich mit einem anderen Journalisten unterhalten, der sehr wütend war. Seiner Meinung nach hast du vollkommen die historische Dimension des Stücks ignoriert. Er sagte: „Nach dem, was Maurice Béjart und Pina Bausch geschaffen haben, kann man so etwas nicht machen...”

Xavier Le Roy: Es ist ein Glück, dass Maurice Béjart, Pina Bausch, Walt Disney, Martha Graham, Raimund Hoghe, Jérôme Bel und viele andere mit „Le sacre du printemps” arbeiten konnten – trotz dem, was Nijinsky geschaffen hatte. In Berlin gab es unglaublich viele Bemerkungen darüber, was das Stück nicht ist oder tut, anstatt darüber nachzudenken, was es denn tut oder auslöst. Besonders von Leuten, die „sich auskennen”. Das Erste, was sie sagen, ist: „Warum hast du nicht?” etc… Wenn das Stück sie nicht anspricht, sollten sie nicht ihre Zeit damit verschwenden, darüber zu sprechen. Es sei denn, etwas stört sie daran. Was ist das? Und warum? Sie sollten am besten ihre eigenen „Sacres” machen – oder versuchen, sich von einem sehr konventionellen Verständnis von „historischer Wahrheit” zu emanzipieren. Dieser Journalist redet, als hätte ich mich mit dem Material überhaupt nicht beschäftigt. Natürlich habe ich die „Sacres” von Pina Bausch, Béjart, Walt Disney und vielen anderen studiert. Natürlich habe ich mich mit den historischen Dimensionen auseinandergesetzt. Es gibt so viele Dokumente über diese Stücke, und das macht es sehr spannend, damit und darüber zu arbeiten. Eine meiner Lernmethoden war es, Stücke von Choreographien zu lernen. Ich lernte Ausschnitte aus der Choreographie von Pina Bausch, aus der von Nijinski, und das half mir, die Musik zu lernen. In meinem Stück geht es nicht nur um „le sacre”, sondern vor allem um die Beziehung zwischen Musik und Bewegung, um das Hören und Zu-hören und das Sehen und Zu-Sehen.

Auf der anderen Seite gab es auch unglaublich viele rein technische Kommentare, im Sinne von „Hier hast du den Rhythmus nicht richtig herausgearbeitet”. Wie Mechaniker, die untersuchen, warum ein Auto schneller oder weniger schnell fährt – so als würden sie ein Autorennen anschauen und nicht etwas, das Sinn und ein Erlebnis produziert. Besonders die Leute mit einem bestimmten Fachwissen haben sich hauptsächlich technisch geäußert, und nicht politisch, im Sinne von „Was sagt das Stück eigentlich?”. Das ist ein bisschen schade. Wenn das Grundlage für die Ausbildung kommender Generationen ist, sieht die Zukunft der Choreographie – um mit John Cage zu sprechen - „technisch” und nicht „politisch” aus. Und das ist doppelt schade.

Nächste Aufführungen von „Le Sacre du Printemps”: 29.11. Mozarteum, Salzburg (www.moz.ac.at) 11.-15.12. Tanzquartier, Wien (www.tqw.at) 18.-19.12. Gessnerallee, Zürich (www.gessnerallee.ch) www.mathildemonnier.com

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