„Kitri, das ist mein Charakter“

Ein Gespräch mit dem Bolschoi-Star Natalia Osipova

Berlin, 29/11/2007

Sie springt unglaublich hoch und weit, sie dreht unglaublich schnell – als Kitri riss die blutjunge Corps-Tänzerin Natalia Osipova die Zuschauer zu Ovationen und die Kritiker zu Lobeshymnen hin. Inzwischen wurde sie zur Halbsolistin ernannt. Hartmut Regitz sprach mit dem neuen Star des Bolschoi-Balletts.

Sie sind ein Star, gerade mal 21 Jahre alt, haben einige Preise erhalten, wurden von den Kritikern der Zeitschrift ballet-tanz als eine der besten Tänzerinnen unserer Zeit nominiert. Die Frage liegt auf der Hand: Wie verkraftet man einen solchen Erfolg? Wie geht man damit um?

Natalia Osipova: Ich kann nicht sagen, dass ich diesen Erfolg um mich herum registriere. Für mich ist es ein schieres Glück, wenn die Vorstellung läuft, ich auf der Bühne stehe und mir die Zuschauer applaudieren. Nur deshalb mache ich das. Ich liebe meinen Beruf, zehre von diesen Vorstellungen, von diesen Proben. Etwas anderes existiert eigentlich nicht für mich.

Aber es kann doch eine Belastung sein, immer und immer wieder den Erfolg einlösen zu müssen.

Natalia Osipova: Der Erwartungsdruck ist groß, und ich bin – auch emotionell – noch sehr, sehr jung. Manchmal werde ich richtig nervös, wenn mir jemand sagt: Natascha, das muss jetzt super werden. Denn das erwarte ich natürlich von mir auch. Ich fühle mich sehr verantwortungsbewusst.

Können Sie sich Ihren Erfolg erklären?

Natalia Osipova: Schwierig zu sagen. Vielleicht war ich einfach im richtigen Moment am richtigen Platz in der richtigen Zeit in der richtigen Vorstellung... Viele sagen auch: die hat einfach Glück gehabt. Aber dahinter steht, um ehrlich zu sein, eine kolossale Arbeit. Mein ganzes Leben verbringe ich im Ballettsaal. Viele Sachen schaffe ich auch nicht, was mich ganz nervös macht. Ich versuche immer, zweihundert Prozent zu geben. Und wenn ich auf eine Bühne gehe, denke ich: Okay, das ist jetzt das Ergebnis.

Ich habe gelesen, dass Sie ursprünglich – wie Sylvie Guillem – Sportgymnastik betrieben. Warum, und weshalb haben Sie Ihren Plan nicht zu Ende geführt?

Natalia Osipova: Schon mein Vater war Sportler. Meine ganze Kindheit habe ich im Stadion zugebracht. Da lag es einfach nahe. Schon mit fünf habe ich mit Sportgymnastik angefangen. Und drei Jahre meiner Kindheit habe ich damit verbracht. Ich war, wie man so schön sagt, ein Maximalist und wollte schon damals mein Ziel erreichen. Aber dann bin ich bei einem Salto vom Schwebebalken gefallen und habe mich dabei am Rücken verletzt. Danach haben mir alle geraten, von der Sportgymnastik abzulassen, weil ich mich dabei immer sehr gequält habe. Schließlich schickten mich meine Eltern ins Ballett, mit dem ich eigentlich gar nichts am Hut hatte. Für mich war es eine Tragödie, nicht meine Sportgymnastik fortsetzen zu können.

Verstehe ich Sie richtig: Sie haben nur mit Widerwillen mit dem Ballett angefangen?

Natalia Osipova: Ja. In der ersten Zeit wurde ich regelrecht ins Ballett gezwungen.

Was hat denn den Umschwung gebracht? Ich sagte mir da immer: Okay, die drei Jahre mach ich noch ein bisschen mit und hau dann ab. Ich fand Ballett einfach uninteressant; ich konnte alles, weil ich durch die Gymnastik vorgebildet war. Als wir das erste Mal auf der Bühne des Bolshoi-Theaters tanzten...

Mit der Schule des Bolshoi-Theaters, an der auch Polina Semionova studierte?

Natalia Osipova: Ja, sie war zwei Jahre älter... hat mich das geradezu erschlagen. Dieser Zuschauerraum, diese wunderbare große Bühne! Alle applaudieren. Da habe ich mir gewünscht, auf immer auf dieser Bühne zu stehen und diesen Applaus zu haben. Ich wollte nur noch tanzen, tanzen, tanzen... Überall und alles. Aber richtig Training zu machen, das fand ich auch weiterhin wenig interessant. Irgendwann haben wir angefangen, auch schauspielerisch zu arbeiten, und das war sehr viel spannender.

War das die eigentliche Herausforderung: der Ausdruck? Tanz erschöpft sich ja nicht in seiner technischen Bewältigung.

Natalia Osipova: In der Schule hatte ich nur einen Wunsch: alles zu tanzen. Was das alles bedeutet, habe ich nicht verstanden. Ich habe nicht wirklich auf die Position meiner Füße und meiner Arme geachtet. Ich konnte meine Emotionen nicht bremsen. Erst als ich beim Theater war, hat mein Coach Marina Kondratiewa alles daran gesetzt, aus mir eine klassische Balletttänzerin zu machen. Mit der Technik an sich hatte ich nicht die geringsten Schwierigkeiten. Aber seine Gefühle zurückzuhalten und auf die Reinheit des Tanzes zu achten, fiel mir anfangs schwer.

Sie sind von der Bolshoi-Ballettschule zum Bolshoi-Ballett gegangen. War das gleichsam eine Automatik? Oder haben Sie bewusst diese Truppe gesucht und diesen Stil?

Natalia Osipova: Ich wollte von meiner Kindheit an zum Bolshoi. Klar, als Moskowiterin. Aber als ich dort war, bekam ich erst mal einen großen Schreck. Schließlich ist es eine große Truppe, und ich hatte Angst mich zu verlieren. Auch glaubte ich, es nicht schaffen zu können. Und dann habe ich wirklich Glück gehabt, dass ich zu Marina Kondratieva gekommen bin und dadurch die Aufmerksamkeit von Ballettchef Alexei Ratmansky auf mich lenken konnte. Sie hat mir vieles beigebracht, und er hat mir die Möglichkeit gegeben. Man braucht so jemanden, der einen unterstützt und an einen glaubt. Und er hat etwas riskiert, als er mich in der ersten „Don Quixote“-Vorstellung in London eingesetzt hat. Ich war nur eine Gruppentänzerin. Kein Mensch kannte mich.

Es gibt so viele Tänzerinnen, die auf die gleiche Chance warten. Haben Sie so etwas wie Konkurrenzneid erfahren?

Natalia Osipova: Ja, es gibt viele gleichaltrige Tänzerinnen, die ebenfalls talentiert sind. Manchmal spürte ich eine negative Ausstrahlung, und am Anfang hat mir das zu schaffen gemacht. Neid gibt es immer. Aber in diesem Beruf kann man Neid in sich nicht so einfach unterdrücken.

Mit Kitri haben Sie in London Ihren Durchbruch gefeiert. Aber die Kitri ist nicht allein seligmachend. Läuft man nicht Gefahr, auf ein bestimmtes Rollenklischee festgelegt zu werden?

Natalia Osipova: Nein, das glaube ich nicht. In dieser Spielzeit tanze ich nicht nur in „Le Corsaire” und „La Sylphide”, sondern zum ersten Mal auch die lang ersehnte Giselle. Momentan proben wir daran, eine schwierige, sehr akribische Arbeit. Ich dachte nicht, dass es so schwierig werden wird, was den Ausdruck betrifft. Die Kitri, das ist mein Charakter, meine Individualität. Der zweite „Giselle“-Akt dagegen ist deshalb so schwierig, weil man dem Zuschauer die Atmosphäre durch Plastizität nahe bringen muss. Und im ersten Akt muss Giselle so natürlich sein, dass keiner auch nur ein Gedanke darauf verschwendet, dass das alles gespielt wird. Und wenn er zu Ende geht, sollte das Publikum komplett in Tränen ausbrechen. Dann ist es richtig. Dann hat es einen Sinn, dass wir überhaupt auf die Bühne gehen und das Stück tanzen.

Gibt es denn so was noch in Russland?

Natalia Osipova: Weniger als früher. Aber es gibt Vorstellungen, die ich komplett in Tränen aufgelöst verlasse. Es ist unsere Aufgabe, im Zuschauer etwas zu berühren. Beim „Don Q.” befriedigt es mich kolossal, wenn ich beim Schlussapplaus um mich herum lächelnde Zuschauer sehe. Sie sind glücklich, dabei gewesen zu sein. Wir müssen nicht unbedingt um die Tränen kämpfen, aber wir sollten die Geschichte so kommunizieren, dass sie zu Herzen geht.

Gibt es denn noch andere Rollen, von denen Sie träumen?

Natalia Osipova: Wenn Sie mich jetzt fragen, würde ich sagen: die Julia. Leider läuft das Ballett derzeit nicht bei uns. Auch wenn ich die Fassung von Lawrowsky schätze: ich würde jede Version tanzen, wenn es dazu nur die Möglichkeit gibt. Irgendwann habe ich nicht mehr das Alter für diese Rolle.

Gibt es denn entsprechende Angebote aus dem Ausland?

Natalia Osipova: Jetzt werde ich schon öfters eingeladen, aber meistens bin ich unabkömmlich. Ich bin wirklich sehr nervös, was dieses Thema angeht.

Es wäre töricht, Sie jetzt schon nach einem Leben nach dem Tanz zu fragen. Aber gibt es denn ein Leben neben dem Tanz?

Natalia Osipova: Um ehrlich zu sein: Eigentlich dreht sich das ganze Leben um den Tanz. Die meiste Zeit verbringe ich auf Gastspielen oder im Theater. Mein Beruf zwingt mich eigentlich, alle meine Freunde zu vergessen.

Ein Verzicht?

Natalia Osipova: Nein, ich verzichte nicht auf das Leben. Ich möchte nicht eine verrückte Fanatikerin werden. Sicher, ich mache jetzt eine wichtige Sache. Aber zwischendurch erlaube ich mir, was anderes zu machen, vielleicht eine Party zu geben oder der einfach nur die Tapeten zu wechseln. Wenn ich mich nur noch um diese Sache kümmere, könnte es sein, dass ich eines Tages meinen Verstand verliere. Irgendwas stirbt dann ab. Aber irgendwoher müssen die Emotionen ja doch kommen, durch die Musik, die Natur, durch Freunde. Und dafür finde ich Zeit.
Übersetzung: Julia Lukjanova

 

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