Ballett-Borschtsch aus St. Petersburg

Boris Eifman vertanzt Tschechows „Die Möwe“ im Forum am Schlosspark

oe
Ludwigsburg, 27/09/2007

Müssen es denn immer wieder Boris Eifman und sein St. Petersburger Ballett-Theater sein, die die herbstliche Ballett-Stagione der Kulturgemeinschaft im Ludwigsburger Forumtheater bestreiten? Man weiß ja inzwischen: es sollte alljährlich ein Abendfüller sein, und kosten soll er auch nicht viel. Und da bieten sich die Newa-Ballettisten mit ihren russischen Romanvertanzungen zu offenbar ununterbietbaren Dumpingpreisen an. Als ob nicht auch andere Kompanien solche Knüller – zugegeben kleineren Formats – in ihrem Repertoire hätten: Zürich beispielsweise, Salzburg oder Saarbrücken (wenn man sich denn schon die großen Kompanien nicht leisten kann).

Und so musste es denn diesmal „Die Möwe“ sein – frei nach Anton Tschechow in der Choreografie, Intendanz (!) und Künstlerischen Leitung von Boris Eifman, eine Novität aus dem Jahr 2007. Und wie schon Neumeier vor fünf Jahren in Hamburg, so hat Eifman Tschechows Handlung aus dem Schauspieltheatermilieu in die Ballettwelt verlegt und auf die vier Hauptcharaktere konzentriert. So ist aus dem jungen Schriftsteller Konstantin Treplew ein Avantgarde-Choreograf geworden, aus der ehrgeizigen Nachwuchsschauspielerin Nina eine ambitionierte Tänzerin, aus seiner Mutter Irina Arkadina, einer Actrice der Duse-Klasse, eine Primaballerina und aus ihrem Liebhaber Boris Trigorin, der bei Tschechow ein erfolgreicher Dramatiker ist, ein Ballettmeister.

Doch was bei Neumeier eine subtile Charakterkomödie über das russische Theater im Umbruch vor und unmittelbar nach der Oktoberrevolution ist – mit deutlichen Anspielungen auf Petipa, Diaghilew und die jungen sowjetischen Choreografen um Goleisowsky und Lopuchow –, wird bei Eifman zu einem tänzerischen Nummerneintopf mit kräftig gewürzten Zutaten, eine Art russischem Ballett-Borschtsch, konzentriert auf das erotische Techtelmechtel der vier Protagonisten, so dass man die vier auch für Geschwister der Goetheschen „Wahlverwandtschaften“, wenn nicht für Zeitgenossen der Akteure in Heiner Müllers „Quartett“ halten könnte.

Keine Frage: es ist eine äußerst nahrhafte russische Kraut-und-Rüben-Tanzsuppe geworden, aus Klassik, Esperanto-Moderne nebst halsbrecherischer Akrobatik, samt Lifts wie an einer Raketen-Abschussrampe und sogar einer Prise Hip-Hop – und für die saftigen Fleischbrocken darin sorgen die virtuosen Solisten, allesamt Perfektionisten mit dem Gütesiegel der Bolschoja Akademiska (ohne Gammel-Rückstände) und auch das in großer Formation antretende Corps tanzt wie für die Maiparade auf dem Roten Platz gedrillt. Tschechow allerdings, dieser melancholische Sensibilist des russischen Fin de siècle, geistert unsichtbar hinter den Kulissen von Zinovy Margolin herum und wird sich wohl erst wieder beim Gastspiel des Hamburger Balletts mit John Neumeiers „Die Möwe“ vom 12. bis 14. Oktober im Festspielhaus Baden-Baden an die Öffentlichkeit wagen.

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