Aus der Folterfestung der Lüste

Gregor Seyfferts „Marquis de Sade“ im stillgelegten Industriekraftwerk

oe
Stuttgart/Vockerode, 22/05/2007

Vor Jahresfrist hat Gregor Seyffert im stillgelegten Kraftwerk von Vockerode bei Dessau sein Cross-Genre-Spektakel „Marquis de Sade“ herausgebracht und damit einen solchen Erfolg erzielt, dass sich die Veranstalter entschlossen haben, zu Pfingsten eine neue Vorstellungsserie zu starten. Am 24. Mai geht‘s los und dann jeweils zu den Wochenenden ab Freitag bis zum 29. Juli. Man kann das gigantische Projekt als eine Art Antwort auf das movimentos Festival von Wolfsburg sehen – die Architektur des Veranstaltungsorts und seine geografische Lage an der Elbe ähneln verblüffend dem Kraftwerk der Autostadt am Mittellandkanal, so dass man sich gut einen Austausch der beiden Unternehmungen vorstellen kann. Wobei Vockerode sich wie ein Gegenentwurf zur kulturpolitischen Dessauer Bauhaus-Programmatik ausnimmt, denn hier ist alles Exzess, während in der nahegelegenen ehemaligen Residenz der Fürsten von Anhalt-Dessau der reine Rousseausche Geist eines nüchternen Rationalismus waltet.

Und was hat man sich unter einem Cross-Genre-Spektakel vorzustellen? Die Programmbroschüre definiert es als „einzigartige Mischung aus Tanz, Aktionstheater, Show, interaktiver Ausstellung und kulinarischem Erlebnis“. Beteiligt sind 75 Darsteller und 200 Mitwirkende, den Kern bilden die Mitglieder der Gregor Seyffert Compagnie Dessau sowie ein Kontingent von Absolventen der Staatlichen Ballettschule Berlin. Die Aufführung springt hin und her zwischen den Jahrhunderten und den verschiedenen Stockwerken der imposanten Industriekathedrale – auch musikalisch zwischen Fabriksounds, Apokalyptica und Kompositionen von Karl Jenkins, Thomas Newman, Nine Inch Nail, Magnet und Les Tambours Du Bronx. Den drei Akten sind jeweils Originaltexte von de Sade und seiner Mutter vorangestellt, ausgewählt von Seyffert, der nicht nur die künstlerische Gesamtleitung hat, sondern auch als Dunkler Doppelgänger des M.D.S. auftritt, der in den drei Akten als de Sade von drei verschiedenen Schauspielern dargestellt wird.

Ich habe die Produktion nicht gesehen, sondern nur eine 45 Minuten lange, für den internen Gebrauch hergestellte DVD, die mir wie ein Hors d‘oeuvre vorkommt, jedenfalls als eine ausgesprochen appetitanregende Vorspeise. Wenn ich schildern sollte, was in den zweidreiviertel Stunden des Spektakels geschieht, würde ich sagen, dass man sich das Ganze als eine wüste Orgie vorzustellen hat, die Carceri des Piranesi auf die teuflischen Versuchungen des Hieronymus Bosch und die sadistischen Exzesse Pasolinis getürmt: als eine Proklamation der grenzenlosen Freiheit jenseits aller Moral, wie sie von den Würdenträgern des Staates und der Kirche gepredigt wird. Und da legt sich die Fantasie Seyfferts keinerlei Beschränkungen auf. Das ist natürlich nichts für Fundamentalisten jeglicher Ideologie – es sei denn für die Fundamentalisten einer total entfesselten Sinnlichkeit: für Jugendliche unter sechzehn Jahren nicht unbedingt zu empfehlen! Dagegen eine Produktion mit Aussicht auf Kultstatus, zu der die Sexisten (und besonders deren frustrierte Mehrheit) aller Länder pilgern werden wie die Proselyten der Reinheitslehre zu den „Parsifal“-Aufführungen von Bayreuth.

 

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