Auf der Suche nach der Bedeutung von Bewegung

Anna Teresa de Keersmaeker & Meg Stuart

Berlin, 06/09/2007

Die Belgierin Anne Teresa de Keersmaeker und US-Amerikanerin Meg Stuart, zwei der profiliertesten Tanzschöpferinnen der zeitgenössischen Tanzszene, rückt dieser neue Text-Foto Band in den Mittelpunkt, wobei jeder Künstlerin die Hälfte der Publikation gewidmet ist. Man kann also von vorn nach hinten bzw. von hinten nach vorn lesen. Das Layout der Berliner Grafikerin Anja Lutz macht Sinn, es bündelt, gliedert, wertet, ohne PR-Mäzchen, denn de Keersmaeker und Stuart sind, bei aller Unterschiedlichkeit, zusammen zu denken. So unkonventionell die Choreografinnen, so unkonventionell die Spurensuche dieser Publikation des K. Kieser-Verlages München. Anne Teresa de Keersmaeker und Meg Stuart im handlichen Doppelpack: informativ, nachdenklich, fragend, verortet in der Gegenwart.

Der Benutzer kann sich gleichsam von den Arbeitsanfängen der achtziger und neunziger Jahre bis ins Heute bewegen, erfährt von Arbeitsansätzen, die sich fortentwickeln, sich auch tangieren können, von Tanzkünstlerinnen, die in einem europäischen Kontext stehen, ganz eigene Fragestellungen in Bewegung bannen und so den Leser und Zuschauer in permanente Bewegung versetzen. Die Hamburger Tanzjournalistin Irmela Kästner nähert sich sowohl der Persönlichkeit als auch dem Werk beider Künstlerinnen kenntnisreich, sensibel und genau in der Beschreibung und in den Fragestellungen. Die Publikation weckt nicht nur Interesse, sondern bemüht sich erfolgreich um eine tieflotende verbale Exkursion in die Denk- und Schaffensmotivation, die sich in den werkbiografischen Recherchen zu den Performances von Meg Stuart und Anne Teresa de Keersmaeker niederschlägt. Irmela Kästners umfangreiche, über mehrere Jahre geführte Interviews (deutsch + englisch), fokussieren respektvoll und präzis das Kunst- und Zeitverständnis der Performerinnen & Choreografinnen. Beide Künstlerinnen öffnen sich in diesem Diskurs und treffen kunsttheoretische Selbstaussagen, die hier als wichtige Zeitzeugnisse dokumentiert sind.

Meg Stuart (Jg. 1965), hat sich mit „No Longer Readymade“ (1993) aus der New Yorker Off-Szene in die brodelnde europäische Tanzszene katapultiert, wo sie mit ihrer eigenen Gruppe „Damaged Goods“ (1994) in wechselnden Formationen auftritt. „Die Zerrissenheit zwischen privatem und öffentlichem Leben, zwischen verborgenen Fantasien und offenem Handeln, zwischen Instinkt und Verstand thematisiert Meg Stuart in „No One is Watching“ so wie in den vielen Stücken, die noch folgen werden“, so die Autorin Irmela Kästner, die Meg Stuarts Entwicklung seit ihrer ersten Begegnung 1995 in Brüssel verfolgt. Die Verzerrung als Ansatz und Ausdruck der assoziativen Bilderwelten, die mit Sprach- und Textfetzen verbunden sind, die emotionalen Zustände des Körpers im Widerspruch mit sich und der Welt, diese Kluft zwischen innerer Bewegtheit und äußerer Bewegung führte Stuart zur Absage an den sich selbst leerlaufenden reinen Tanz. Das lange Gespräch, geführt in London 1998/Berlin 2005/Stuttgart 2006, beleuchtet die Realität der virtuellen Bilder, die sich (seit „Alibi“ 2001, „Visitors Only“ 2003) als erweiterte Dimension des Raumes zwischen die Aktion der Darsteller und die Imagination des Zuschauers schiebt.

„Die Kontaktimprovisation hat meine Arbeit tief beeinflusst. Aber ich bin total fasziniert vom Theater. In diesem Sinne suche ich immer nach der Bedeutung von Bewegung“, bekennt Meg Stuart. Europa ist Meg Stuarts künstlerische Heimat. Hier tritt sie seit mehr als 15 Jahren mit vollem Risiko in den Dialog mit anderen Medien, Performern und Zuschauern.

Anne Teresa de Keersmaeker (Jg. 1960) hat gleichermaßen „entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Bühnenkünste der vergangenen 25 Jahre (…).“ Nach dem Vorbild von Pina Bausch haben Anne Teresa de Keersmaeeker und Meg Stuart nicht nur die Tanzlandschaft verändert. Sie haben auch dem Theater ein anderes Gesicht gegeben, so Johan Reyniers, der Künstlerische Leiter des Kaaitheater Brüssel, der die Soloarbeiten und Gruppenstücke beider Künstlerinnen von Anfang an fördert, in seiner Würdigung auf den orangefarbenen Mittelseiten des Buches.

Irmela Kästners aussagekräftige Essays untersuchen vielschichtig Anne Teresas de Keersmaekers Werke in ihrer unterschiedlichen Bezogenheit über einen Schaffenszeitraum von 25 Jahren. Die Belgierin kehrte 1982 nach einem Studienaufenthalt in New York zurück nach Brüssel. Mit ihrem Tanzduett „Fase“ (1982), das das musikalische Prinzip der Phasenverschiebung bei Steve Reich in komplexe Minimalverschiebung der Bewegung übersetzt, gelang der internationale Durchbruch. 1983 gründet sie die Kompanie Rosas; die Uraufführung von „Rosas danst Rosas“ (1983) gilt als Initialzündung für den belgischen Tanzboom. Reich bleibt der große musikalische Anreger, ihm widmet sie 2007 den mehrteiligen „Steve Reich Evening“. Joan Baez, Bob Dylan, Béla Bartók, György Ligeti, Claudio Monteverdi, Jazz, Pop, Klassik und Folkmusic werden ihre Inspirationsquellen und Reibungsflächen. Das Buch beleuchtet die achtjährige Residence der Kompanie Rosas am Brüsseler Opernhaus La Monnaie (1992-2000), den Einzug der Kompanie Rosas in die neuen Studios auf dem Gelände der 1995 gegründeten Schule für zeitgenössischen Tanz – P.A.R.T.S. – Beginn einer beispielhaften Verbindung von Ausbildung und Produktion! Dem kulturgeschichtlich Neuen sowie der facettenreichen Wandlung des Rosas-Frauentypus (nach den Cocktailkleid-Damen der Pina Bausch) spürt die Autorin ebenso nach wie den aus der Musik erwachsenen, nichtlinearen Erzählweisen. Spannend zu lesen sind insbesondere der Essay „Ritual der Verführung – eine Regung von Freude zu Keersmaeker Gruppenstück „Mozart/Concert Arias. Un moto di giogia“, uraufgeführt 1992 in Avignon, seither im Repertoire (!), gefeiert als Ode an die schöpferische Liebe, ein „Auf und Ab von jauchzender Freude und heulendem Elend“. Keersmaekers Credo, nach dem der Tanz die Struktur der Musik offenlegt und für das Hören sensibilisiert, verfolgt die Autorin in Arbeiten wie „Raga for the Rainy Season“ (Brüssel 2005), „Once“ (Brüssel 2002), „Bitches Brew / Tacoma Narrows“ (Brüssel 2002).

Anne Teresa de Keersmaeker gibt im Interview (geführt 2004 und 2007) Einblicke in ihre Weltsicht, Auskünfte zur Rolle der Musik in ihrem Schaffen, zur Arbeit an einer Gruppenchoreografie als intensives soziales Projekt. Sie postuliert ihren Glauben an den Tanz „als verzweifelter Versuch, eine Art von natürlicher Schönheit zu verteidigen, die sich in Tanz und Musik offenbart. Selbst in einer Welt, die ein so problematisches Verhältnis zur Natur hat. Ja, es stimmt, ich will mich von der Welt nicht abwenden. Die Kunst soll weiterhin Fragen stellen“. Keersmaeker gibt ihre „Definition von Tanz im allgemeinen“ – allein diese Aussage auf Seite 56 bietet Anregungen zum Weiterdenken und Tun.

Endlich eine Publikation, bei der Inhalt und Form eine höchst produktive, da informative Synthese eingehen. Für alle Tanzfreunde – Praktiker wie Theoretiker, Leser wie Zuschauer – alle, die nicht nur an der Oberfläche Einsichten gewinnen wollen, ein Gewinn!

 

Irmela Kästner (Text) / Tina Ruisinger (Fotografie) Anna Teresa de Keersmaeker & Meg Stuart K. Kieser Verlag, München 2007. 192 S. 30, – Euro (D) / 30,90 Euro (A) ISBN 978-3-935456-15-9

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