Tschaikowsky und kein Ende

Im Mozart-Jahr überrundet Pjotr Iljitsch seinen Salzburger Kollegen um Längen

oe
Stuttgart, 24/05/2006

Ausgerechnet im Mozart-Jubiläumsjahr 2006 scheint es so viele Tschaikowsky-Produktionen gegeben zu haben wie kaum je zuvor. Und das hat keineswegs damit zu tun, dass Tschaikowsky drei „richtige“ Ballette komponiert hat, während sich der Salzburger mit einem einzigen legitimen Appetizer zufriedengab und sein gewichtigstes Ballett in der Oper „Idomeneo“ versteckt hat (das in den meisten Inszenierungen gestrichen wird).

Die glamouröseste Tschaikowsky-Klassikerproduktion der Spielzeit hat es zweifellos beim Staatsballett Berlin gegeben. Allein wenn ich mir die Kritiken ansehe und das Buch „Malakhovs Dornröchen“ durchblättere, habe ich kein schlechtes Gewissen, nicht eigens nach Berlin zu dieser rosengeschwängerten Produktion gefahren zu sein. Was den neuen Zürcher „Schwanensee“ angeht, so dürfte er wohl nicht gerade zu Spoerlis besten Arbeiten zu zählen. Bleibt das Dessauer „Dornröschen“ als Neuauflage der Berliner Jan-Linkens-Produktion von 1999. Was ich von der halte, kann man im kj aus Ludwigsburg vom 12. Mai nachlesen. Gern hätte ich Darrel Toulons neues „Dornröschen“ in Graz gesehen, aber auch meinem Reiseetat sind gewisse Grenzen gesetzt. Und nun lese ich noch kurz vor Spielzeitende im Thüringer „Freien Wort“ vom 23. Mai eine insgesamt recht positive Kritik über ein neues Eisenacher „Dornröchen“ (übrigens mit Benito Marcelino als Hauptdarsteller). Das freut mich für Tomasz Kajdanski. Wenn ich dann allerdings im Deutschen Bühnenjahrbuch 2006 sehe, dass das dortige Ballett, inklusive Gäste und Praktikanten, über ganze 16 Mitglieder verfügt, kommen mir doch einige Bedenken.

Dass Kajdanski allerdings auch mit einem kleinen Ensemble clever umzugehen weiß, hat er schon 2002 in seinem „Tschaikowsky – Verbotene Träume“ in Rostock bewiesen. Das war also eins jener biografischen Ballette, die augenblicklich sehr en vogue sind, und das er jetzt nach Eisenach übernommen hat (übrigens schon in Rostock und auch jetzt wieder mit Marcelino als Protagonist). Ich habe es weder in Rostock noch jetzt in Eisenach gesehen, aber er hat mir eine Video-Aufzeichnung der Rostocker Version geschickt, und die finde ich höchst achtbar – nicht zuletzt die auf „Francesca da Rimini“ und „Manfred“ konzentrierte Musikauswahl. Die verbotenen Träume sind natürlich Tschaikowskys homoerotische Gelüste – und die hat Kajdanski (mit Dorin Gal als Ausstatter) plausibel ins Bild gesetzt – mit einer schönen Rolle auch für Tschaikowskys sehr um ihn besorgten Bruder Modest und für die Visionsszenen der Schwäne mit einem gemischt besetzten Corps (sicher inspiriert von Matthew Bournes „Swan Lake“ – drei Jahre vor Stephan Thoss‘ männlichen Schwänen) – sehr einleuchtend erzählt.

Im Wesentlichen positiv im Gedächtnis verblieben ist mir – mit kleineren Abstrichen – Schindowskis „Die letzte Symphonie“ in Gelsenkirchen (siehe „Abseits von Schalke“, kj vom 7. Januar) und auch Eifmans Berliner „Tschaikowsky“, der ja ziemlich kontroverse Reaktionen hervorgerufen hat (siehe „Ein tänzerischen Quantensprung“, kj vom 4. Mai). Dazu möchte ich sagen, dass ich die im „tanznetz“ veröffentlichten, von meinen Tagebuch-Kommentaren abweichenden Meinungen ausdrücklich begrüße (wie übrigens auch im Fall der Karlsruher „Anna Karenina“), da mir nichts so gegen den Strich geht wie Kollegen, die überzeugt von ihrem Alleinvertretungsanspruch sind.

Das belässt noch zwei weitere an der Biografie des Komponisten aufgehängte Ballette. Da sind einmal die Wiener „Tschaikowsky Impressionen“, die ich nicht gesehen habe, von denen mir aber eine Video-Aufzeichnung mit Ausschnitten zugänglich gemacht wurde. Sie bestätigte vollauf die negative Summe der Wiener Kritiken: die Produktion ist offensichtlich der Super-GAU der Spielzeit 2005/06, und mir ist unbegreiflich, wie Harangozó mit seinem erfahrenen Wiener Mitarbeiterstab Ivan Cavallari, den ich nach wie vor für einen begabten Choreografen halte, derart ins Verderben schlittern lassen konnte. Und das andere ist Peter Breuers Salzburger „Tschaikowsky“ genau am entgegengesetzten Ende der Bewertungsskala: meiner Meinung nach die beste all dieser Tschaikowsky-Produktionen (siehe kj vom 23. und 24. November 2005).

Gewundert habe ich mich, dass in all diesen Ballett- oder Tanztheater-Annäherungen an Tschaikowsky offenbar keiner auf die Idee gekommen ist, den vom Komponisten innigst geliebten Neffen Vladimir ‚Bob‘ Davidow einzubeziehen. Das wäre Edmund Gleede, einem der besten deutschen Tschaikowsky-Kenner, sicher nicht passiert. Schade, dass der mit seinem dramaturgisch-inszenatorischen Knowhow inzwischen dem Ballett verlorengegangen ist!

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