Let's spend the night together

Haben Sie schon mal versucht Kinderballett nach Mitternacht anzubieten?

München, 07/12/2006

Von Stefan Sixt 

Mein Freund lebt seit geraumer Zeit in der südkoreanischen Mega-Metropole Seoul. Seine 12-jährige Tochter bringt er abends um 11 Uhr ins Ballett. Das ist insofern praktisch als der Sohn von Mitternacht bis 1 Uhr Hockeytraining hat. Mein Freund kann in der Zwischenzeit die Wäsche aus der Wäscherei holen, das Auto in die Inspektion bringen, sich die Haare schneiden oder einen Anzug anpassen lassen. Seoul ist 24 Stunden am Tag geöffnet. Das schlägt durch, auch aufs Ballett.

Diese Jederzeit-Bereit-Mentalität muß auch die bayerische Staatsregierung beeinflusst haben, als sie sich für den gymnasialen Nachmittagsunterricht - kurz G8 - entschied. Die weisen göttlichen Ratschläge des Engel Aloisius können es jedenfalls nicht gewesen sein; denn liebe Leser: Haben Sie schon mal versucht Kinderballett nach Mitternacht anzubieten? Natürlich, man würde Ihnen die Polizei, das Jugendamt oder den Amtspsychiater schicken. Im weißblauen Lederhosen- und Laptop-Paradies ist zwar manches möglich - aber nächtlicher Ballettunterricht für Kinder nicht.

Bei mir rufen seit Schulanfang ständig Mütter an, die ihre G8-Kinder vom Tanzunterricht abmelden. Rückwirkend zum 31. Juli natürlich, G8 ist schließlich eine Art übergesetzlicher Notstand. Das „G“ steht vermutlich für „göttlich“ und mit „8“ könnte ein verschlüsselter Hinweis verbunden sein: „Achtung!“ Achtung an alle Ballettschulen, Musikschulen, Sportvereine, Pfadfindergruppen, Konfirmandentreffen, Ministrantengruppen! Denn mit dem G8 wird eine jahrzehntelang gewachsene Jugendkultur, quer durch alle Interessensbereiche, quer durch alle sozialen Schichten mit einem Federstrich gekippt. Eine riesige Zahl unabhängiger Trägerorganisationen ist ihrer Existenzgrundlage beraubt, eine Heerschar freier Sport-, Musik- oder Tanzlehrer hat keinen Job mehr.

Und Kinder, die mit 5 oder 6 Jahren ihr Hobby anfingen und sich mit 9 oder 10 für Leistungsgruppen entschieden haben werden jetzt um die Möglichkeit gebracht, sich weiterzuentwickeln um eines Tages Fußballprofi, Konzertpianist oder Primaballerina zu werden. Auch die Regensburger Domspatzen werden schon in ein paar Jahren dem Papst in Rom keine Aufwartung mehr machen können.

Denn wer soll den Unterricht übernehmen? Soll der Sportlehrer angehende Fußballprofis trainieren? Soll der Musiklehrer Konzertpianisten ausbilden? Oder lieber der Physiklehrer, weil er etwas von Akustik versteht? Den Tanzunterricht könnten sich ja die Musik- Sport- und Kunsterziehungslehrer teilen. Das ist der Ausstieg aus einem vielfältigen, in Jahrzehnten gewachsenen, erfolgreichen und im wahrsten Wortsinn subsidiären außerschulischem Bildungssystem.

Unser verehrter Herr Ministerpräsident hat das G8-Modell übrigens so begründet: „Unsere Jugendlichen sollen die bestmögliche Ausgangsposition für ihren Start in das Leben haben. Sie sollen hervorragend ausgebildet werden. Aber sie sollen auch mit Jugendlichen aus anderen Ländern mithalten können, die früher in das Berufsleben einsteigen, und damit in unserer globalen Welt bessere Chancen haben.“ Diese hervorragend ausgebildeten späteren Berufstätigen können dann ja eines Tages ihre Kinder tatsächlich nachts ins Ballett bringen. Hoffentlich hat in der bayerisch-globalen Welt bis dahin auch die Autowerkstatt nachts geöffnet. Und sollte den hervorragend ausgebildeten Berufstätigen wider Erwarten nach Kultur zumute sein, können sie sicher im Internet eine Dokumentation vom Zeitalter der Pyramiden bis hin zum G8 anklicken.

Erstabdruck im dance for you magazine

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