Frei sein und brüderlich wie ein Wald

„Meine Melodie“ eröffnet im HAU 3 eine Reihe um Migration

Berlin, 10/01/2006

Die Knieoperation habe nichts gebracht, klagt die Mutter auf der Szene und kriecht im eingeblendeten Film auf allen Vieren in eine Dönerbude. Den folienverpackten Döner legt sie live ihrem Sohn auf den Bauch. Während der isst, erzählt der Vater, wie gern er daheim gemalt habe, hier, in der Fremde, sei kein einziges Bild mehr entstanden: Ich habe meine Augen zu Hause gelassen. Du bist mein Leben, sagt er seinem Sohn, küsst ihn zärtlich – und setzt sich unter einen Strick. Der Junge, angewidert, erbricht den Döner, steht auf und geht fort.

Mit diesem starken Bild, das man lange nicht vergessen wird, endet die Eröffnungspremiere der Reihe „Beyond Belonging – Migration²“ im HAU 3. Mit Positionen und Perspektiven von Migration, wie es im Begleitheft des von Shermin Langhoff kuratierten Programms heißt, werden sich bis März mehrere „betroffene“ Künstler unterschiedlicher Genres in ihren Theaterproduktionen für das Hebbel am Ufer auseinandersetzen. Der Musiker, Schauspieler und Filmemacher Tamer Yigit ist einer von ihnen. „Meine Melodie“, sein erstes abendfüllendes Theaterstück, verarbeitet Erlebnisse vom Erwachsenwerden im Kreuzberg. Sieben junge Darsteller – Musiker, Tänzer, Schauspieler – mit gleichermaßen multikulturellem Hintergrund lässt er in einem halbdokumentarischen, berührend authentischen Spiel aus Rock, Rap, exzellentem Breakdance, Wort und Film die Widrigkeiten von Zuwandererkindern in unvertrauter Umgebung artikulieren.

Türen schließen sich hinter ihnen, der Weg zurück bleibt versperrt wie der Weg vorwärts, den im Film Polizisten abriegeln. Von geliebten, toten Eltern reden die Jugendlichen, von wenig Erinnerung an die Altheimat, auch von Angst. Die beherrscht einen 90-minütigen Abend, an dem die Figuren gerade gegen Ängste immer wieder anstürmen. Da ist jener Junge, den der Vater bettet, der, sich freistrampelnd, „Mutter, ich liebe dich“ ruft. Am ersten Schultag bereits eckt er bei seinen Mitschülern an, Ausländerkinder wie er. Die Klassenlehrerin fragt, wer schon mal tot war, was Untote seien. Als ein Junge von seiner Angst spricht, wenn er nachts allein Zombie-Filme sieht, würgt sie das als zu privat ab.

In meinem Viertel schwitzt das Leben, singt jemand und berichtet von der Schulzeit in der Görlitzer Straße. Nie gefrühstückt habe er, fühlte sich bedrängt von der Droge Einsamkeit, war unglücklich verliebt in eine Katalog-Prinzessin. In kurzen, lose verknüpften Szenen reihen sich wie Ausbrüche diese Einsichten in den Alltag chancenarmer Ghettokids. Den Konventionen ihrer türkischen, islamischen, koreanischen Familien sind sie entfremdet, die neue Welt grenzt sie aus, voreinander haben sie Angst. Frei und brüderlich sein wie ein Wald – das ist unsere Sehnsucht, gesteht einer aus der so sensiblen wie explosiblen, so engagierten wie optimistischen Crew. Man wünscht es allen von Herzen.

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