„Ich hatte das Glück, mich immer weiterentwickeln zu können“

Ein Gespräch mit dem Tänzer und Choreografen Ferenc Barbay, der am 26. Oktober 2006 den Tanzpreis der Landeshauptstadt München 2006 verliehen bekam

München, 28/10/2006

Der Preis wird alle drei Jahre vergeben und ist mit 10.000 Euro dotiert. Ferenc Barbay feiert in diesem Jahr außerdem seinen Abschied vom Theaterleben. 30 Jahre lang gehörte er dem Ensemble der Bayerischen Staatsoper an, zuerst als Solist, später dann als Ballettmeister für die Statisterie und als technischer Koordinator. Als Gast tanzte Barbay an zahlreichen international renommierten Häusern (u. a. beim American Ballet Theatre in New York und an der Mailänder Scala) und startete in den 1980er Jahren mit eigenen Ballettwerken seine zweite Karriere als Choreograf. Eine Auszeichnung ganz anderer Art gab ihrem Tänzerleben zu Beginn ihrer Karriere in Ungarn den entscheidenden Wendepunkt.

Das war 1967 beim Wettbewerb in Varna, wo ich den 3. Preis gewann. Damals saß John Cranko in der Jury und schon nach der ersten Runde – er musste danach weg – bot er mir einen Solovertrag in München an. Das war ein Glücksfall – der berühmte Moment im Leben, mit dem richtigen Talent zur richtigen Zeit am richtigen Platz zu sein. Auch die berühmte Ballerina Ulanova war Mitglied der Jury. Wenn ich mich richtig erinnere, waren da 64 Tänzer. Und nur zwei haben ein Angebot aus dem Westen bekommen. Der Westen aber – das war damals das goldene Schaufenster für uns Ungarn. In der zweiten Runde habe ich mir fast den Fuß gebrochen, so sehr habe ich mich angestrengt (obwohl Cranko mich ja gar nicht mehr sehen konnte).

Was halten Sie von Tänzerwettbewerben?

Ich habe ein gespaltenes Verhältnis dazu. Einerseits habe ich selbst bei einem mitgemacht und weiß, was so ein Preis bedeutet. Ohne denn Wettbewerb in Varna wäre ich nicht hier und mein Leben hätte einen anderen Lauf genommen. Ich hatte das Glück, dass John Cranko mich sah und ich in seine künstlerischen Vorstellungen passte. Aber so einen Kunstwettbewerb zu machen, ist schwierig. Man muss die Balance finden. Es sollte eine Talentsuche sein und darum gehen, Begabungen zu entdecken und ihnen die Möglichkeit zu bieten, gefördert zu werden. Talent ist eine Gabe Gottes. Mit dem Talent umzugehen, ist eine unglaubliche Verantwortung. Als ich selbst noch keine Kinder hatte, dachte ich immer, ich werde sie erziehen. Jetzt, als Vater eines Sohnes und einer Tochter weiß ich: Man kann Kinder höchstens lenken, ihren Talenten eine Richtung geben... Was in gewissem Sinne auch für junge Nachwuchstänzer gilt.

Anders als viele Kollegen kamen Sie selbst relativ spät zum Ballett.

Bei mir war das ziemlich spezifisch und eigenartig. Ich war zuerst auf einer normalen Schule und habe dann ganz professionell in der ungarischen Jugend-Nationalmannschaft Geräteturnen betrieben. Wobei das Turnen einem Tänzer ja wahnsinnig entgegen kommt. Cranko hat es abgöttisch geliebt, dass ich akrobatisch ausgebildet war, und ich konnte mich hier in München damit auch sehr gut in Szene setzen. Man konnte mich in keine Schublade stecken und Cranko kreierte mir die Rolle des Narren im „Schwanensee“ nach dem Motto auf den Leib: „Wenn ein Tänzer einen Double Tour en l‘air springen kann, dann kann er in dieser Rolle auch einen Salto machen.“ Damals war gerade die „West Side Story“ mit Jerome Robbins‘ unglaublicher Choreografie und diesen unheimlich akrobatischen, athletischen Tänzern (keine klassischen, sondern sogenannte Jazz-Tänzer) en vogue. Im Alter von 16 Jahren wechselte ich vom Sport zum Tanz. Aber nicht gleich zum Ballett, sondern erst zur Folklore, wobei dort auch klassisch trainiert wurde. Das war neu für mich, aber die vielen hübschen Mädchen und das Zusammenarbeiten mit der Musik hat mich animiert. Ich hatte eine gute Haltung und man verlangt von einem Turner Sprungkraft und Elastizität – ebenso wie von einem Tänzer. Da entdeckte mich die großartige Ballettmeisterin Hedvig Hidas vom Staatlichen Budapester Ballettinstitut und nahm mich in ihre Ausbildungsklasse auf, obwohl ich älter war als die anderen. Nach meinem Abschluss bekam ein Engagement an der Budapester Staatsoper, wo ich dann bis 1969 zum Ensemble gehörte.

Die Ballettausbildung in Ungarn basierte ja auf dem russischen Unterrichtsprinzip.

Ja, seit Jahrzehnten – wie im ganzen Osten. Das hatte politische Gründe. Nach Russland durfte man reisen und die Russen waren stolz, dass die verschiedenen Länder – egal ob Rumänen, Bulgaren, Tschechen oder Slowaken – sich am Bolschoi orientierten. Budapest bedeutete damals, fast schon im Westen angekommen zu sein, weshalb sowohl das Bolschoi wie das Kirovtheater sehr oft hier gastierten. Für uns Ungarn waren diese Gastspiele mit so fantastischen Tänzern wie Vladimir Vassilijew oder Maximowa natürlich wie „Sonntag hoch drei“. Damals habe ich in der Kulisse gestanden und zugeschaut. Zwanzig Jahre später tanzten wir zusammen in Catanya, in Syrakus, auf ein und derselben Gala!

Mit 26 Jahren hat John Cranko Sie fest als Solist nach München geholt, wo Sie in den 70er und 80er Jahren u. a. mit zahlreichen Rollenkreationen die Bühne im Fach demi-caractère prägten. Gab es Stücke, die Sie besonders gern getanzt haben?

Es ist einfach schön auf der Bühne zu stehen und irgendwie gehörte ich zu den Tänzern, die sehr viele Lieblingsrollen hatten. Ich war einfach gerne dabei und habe versucht, auch meinen Kopf bei der Analyse zu benützen, soweit das eben geht. Natürlich hängt es auch damit zusammen, wie viel Anreiz man in einer Rolle findet.

Woher kommen diese Reize – ist es die Rolle an sich, oder die Art und Weise, wie ein Choreograf bei der Einstudierung vorgeht?

Ein winziger Funke kann diesen Reiz auslösen – muss es auch. Selbstverständlich hatte ich wirklich Glück, denn ich konnte mit großen Künstlern zusammenarbeiten, die außerdem noch für mich choreografiert haben: John Cranko, Glen Tetley oder Frederic Ashton. Ich habe sogar Briefe, in denen sie mir schriftlich gratulieren. Und da war Respekt von meiner Seite aus. Vom ersten Augenblick an, wenn ich in den Ballettsaal trat, haben sie erkannt: „Hu, der brennt!“ Auch ich merkte das als Choreograf: Es ist wunderbar, wenn ein talentvoller Mensch – nicht äußerlich, sondern von seiner Einstellung her – vor einem steht, der – mal ganz banal gesagt – im Ballettsaal „zubeißt“. So war unsere Generation. Und wir hatten diese großartigen Leute: Da war Maurice Béjart. Eine ganz andere Art, wie John Cranko sie hatte, aber ein Theatergenie. Leider habe ich nie mit ihm gearbeitet, aber seine Werke kannte ich sozusagen auswendig. Und dann Jérôme Robbins, George Balanchine, Frederick Ashton, Kenneth MacMillan – wir sind mit ihren Werken aufgewachsen. Die Pas de deux in „Onegin“ z. B.: das ist das beste Tanztheater, was ich je erlebt habe. Puschkin, Tschaikowsky – alles ist drin, ohne Worte! Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, darin den Lenski getanzt zu haben, diese Variation, diese Elegie – es gibt nichts Schöneres, deswegen lieben wir diesen Beruf!

Dazu kamen Gastauftritte in aller Welt.

Ja – und darauf bin ich stolz: Mich haben sie immer für ganz bestimmte Rollen geholt. An der Scala z. B. habe ich Aurel von Milloss‘ „Don Juan“ getanzt. Milloss war zwar ein Altmeister, der noch mit der Auffassung der 1940er Jahre arbeitete und für jede Note einen Schritt konzipierte. Das war jedoch nicht leicht zu tanzen und er erlaubte nicht, dass ich mir irgendwelche Freiheiten herausnehme. Beim American Ballet Theatre habe ich alternierend mit Michail Baryschnikow „Sacre du Printemps“ getanzt. Die Rolle hatte Glen Tetley in München für mich kreiert (UA 17. April 1974). Oder Johann Kresnik. Auch er hat mich für verschiedene Rollen eingeladen und ich habe bei ihm in Wien, Bremen oder Heidelberg sehr viel Tanztheater gemacht, was ich genossen habe. Aufgeschlossen wie ich war, habe ich mich der Herausforderung mit Begeisterung gestellt. Denn Tanztheater hat einen wunderbaren Vorteil: die Spontaneität. Und was kann einem Künstler Besseres passieren, als sich in Freiheit zu entfalten. Ich bin also absolut kein Gegner von Tanztheater, aber eben auch ein Liebhaber des Klassischen: Es gibt nichts Fantastischeres, als wenn jemand seinen Körper absolut beherrscht. Dann kann er bewusst agieren und jede Bewegung ganz ohne Hemmungen einsetzen. An der Zweigleisigkeit führt heute kein Weg mehr vorbei.

Hatten Sie Vorbilder?

Ja! Viele Tänzerinnen waren Vorbilder für mich – auch heute noch. Ich liebe z.B. Lucia Lacarra und Lisa-Maree Cullum, die beide brillant und dabei so verschieden sind. In Ungarn waren damals, als ich noch in der Ausbildung war, sehr starke Frauen in der Kompanie. Eine darunter hat die Variationen mit einer Intensität abgespult, mit einer Dynamik, dass ich dachte: „Wie kann sie das als Frau bringen, ohne nach der Variation kaputt zu sein.“ Sie hatte eine unglaubliche Atemtechnik! Viele Tänzer heute wissen nicht, wie man beim Absprung atmet und den Atem bis zur Landung hält, damit ein Sprung höher aussieht. Ich habe das zum ersten Mal von einer Frau gesehen. So habe ich durch Beobachtung viel Technisches, aber auch Interpretation gelernt. Bei Egon Madsons Premierenvorstellung als Romeo tanzte ich in Stuttgart den Mercutio. Marcia Haydée (auch sie eine meiner Lieblingstänzerinnen) hat – wie schon oft zuvor – die Julia getanzt. Was sie in der Balkonszene gebracht hat, wie sie da als Julia über den Balkon hinweg mit Madson als Romeo korrespondiert hat: Das sind Momente, die heute sehr, sehr selten sind.

Wird von Tänzern nicht sehr viel Eigenengagement gefordert?

Im Grunde genommen werden wir immer alleine gelassen, sobald wir den Probensaal verlassen und die Erklärungen, Vorschläge oder die Unterstützung des Choreografen enden.

Man merkt, wie wichtig Ihnen neben der Technik die Aufrichtigkeit im Ausdruck und Qualität in der Interpretation ist. Dennoch haben Sie nach Beendigung ihrer aktiven Tänzerlaufbahn nicht die Richtung eines Pädagogen eingeschlagen.

Es hat sich hier in München dazu nie konkret die Möglichkeit geboten und das habe ich akzeptiert.

Bis 2004, als ein schlimmer Autounfall Sie für längere Zeit aus dem Alltag herausriss, arbeiteten Sie neben ihren Verpflichtungen als Charaktertänzer und Produktionskoordinator beim Bayerischen Staatsballett als freischaffender Choreograf.

Choreograf zu sein ist heute eine schwere Aufgabe. Dennoch bin ich sehr froh darüber, dass ich mich seit 1979 in diese Richtung weiter entwickeln konnte und so den Übergang geschafft habe. Denn das Abtreten von den berühmten Brettern ist schon eine Belastung. Man fühlt sich noch ziemlich jung und muss auf irgendeine Art und Weise einen neuen Anschluss im Leben finden, beruflich wie menschlich. Mir hat dabei sehr geholfen, dass ich mich unter Ballettdirektor Edmund Gleede noch während meiner aktiven Zeit neu orientieren konnte. Bei ihm habe ich auch – nach meinem 13-minütigen Männerduo Der Feuervogel (UA 25. Mai 1981) mein erstes Stück für die Kompanie kreiert: Daphnis und Chloë (UA 28. November 1982). Auf jeden Fall wollte ich weiter im Umfeld meines Berufs tätig sein, in welcher Position auch immer. Ich liebte diese gewisse Lockerheit, die Small-Talks mal so zwischendurch, über das Leben, die Kunst oder auch über eine Vorstellung. Und was noch wunderschön war am Theater als Arbeitsstätte: Humor spielte in der Kommunikation eine sehr große Rolle.

Haben Sie den Eindruck, dass es Anfang der 1980er Jahre, als Sie zu choreografieren begannen, noch mehr um Geschichten, um Inhalte ging?

Man kann die Zeiten schlecht miteinander vergleichen. Doch haben wir damals tatsächlich sehr inhaltlich unseren Weg gesucht. Heute schwimmt vieles an der Oberfläche... Andererseits ist das Leben heute so: rasant und es fehlt die Zeit, tief abzutauchen und nach Schätzen zu suchen.

Wie bringt man als freier Künstler seine Ideen an den Mann?

Gott sein dank sind die Leute immer auf mich zugekommen. Das allerschönste in der Kunst ist eben die Mundpropaganda. Und die geht entweder vom Zuschauer, meistens aber von Fachleuten aus.

Ihre jüngste abendfüllende Produktion war „Die Tragödie des Menschen“ nach dem gleichnamigen Drama von Imre Madách für das Ballett der Budapester Staatsoper im Milleniumsjahr. Dabei wagten Sie sich als erster an die Umsetzung dieses ungarischen Faust-Stoffes in die Sprache des Tanzes.

Ich bekam das Angebot, weil drei andere vor mir es ablehnt hatten. Der Ballettdirektor, ein sehr guter Freund von mir, sagte mir ganz offen: „Aus kunstpolitischen Gründen musste ich das Stück erst dem, dem und dem anbieten. Dich frage ich als vierten, weil wir gut befreundet sind und ich mir nicht den Vorwurf zuziehen wollte, dich nur deshalb gefragt zu haben.“ Obwohl das Drama kaum choreografisch zu bewältigen ist, sah ich eine kleine Chance und wollte es versuchen. Es wurde ein riesiger Publikumserfolg.

So haben Sie zu ihrer Heimat Ungarn, die Sie als junger Tänzer verlassen haben, den Kontakt als Choreograf wieder aufnehmen können.

Und ich habe nicht nur in Budapest choreografiert, sondern auch für das Ballet Györ, das Ballet Pécs und das Szeged Contemporary Ballet. Das sind die vier großen Kompanien.

Warum?

Weil sie meinen Feuervogel gesehen haben oder irgendeine andere Nummer von mir. Und die, die jetzt Ballettdirektoren oder erste Solisten sind, kennen mich noch von der Schule. Wenn die mich fragen, ob ich etwas für sie mache, schmeichelt mir das natürlich. Schöner noch aber ist die Auseinandersetzung mit einem neuen Tänzer, einem anderen Körper und Talent. Das ist ein tolles Geschenk. Man sitzt in einem stinkenden Ballettsaal und fühlt sich wohl. Dann steht man auf, bewegt sich mit dem Tänzer und der macht es besser als gedacht. Und sofort hat man eine neue Idee: Das ist das Tolle an dem Beruf!

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