Abseits von Schalke

Bernd Schindowski choreografiert „Die letzte Symphonie“ von Tschaikowsky

oe
Gelsenkirchen, 07/01/2006

Tschaikowsky auf Schalke – und zwar die letzte seiner sechs Sinfonien, die sogenannte pathetische, kurz vor dem Tode des gerade mal 53-jährigen Komponisten in St. Petersburg uraufgeführt. Das ließ ein Massenspektakel zum Auftakt der Fußball-Weltmeisterschaft erwarten. Doch so schlimm wurde es denn doch nicht! Mit seinen fünfzehn Tänzern hat Schindowski die Kirche im Dorf gelassen – will sagen dass seine Ballettkompanie im Großen Haus des Musiktheaters im Revier auftrat, das an diesem Samstagabend in der fünften Vorstellung seiner „Letzten Symphonie“ gut gefüllt ist. Hinterher gab‘s, wie bei jedem Ballettabend in Gelsenkirchen, noch eine kleine Talkrunde mit dem Choreografen, zu der sich immerhin ein halbes Hundert Besucher eingefunden hatten. So beginnt die jahrelange Aufbauarbeit – auch mit den konsequent veranstalteten Jugendprogrammen – allmählich ihre Früchte zu tragen. Inzwischen identifizieren sich die Gelsenkirchener mit ihrem Ballett – das haben sogar die Kulturpolitiker bemerkt, die die Arbeit Schindowskis und seines Teams auch mit spärlicher gewordenen Mitteln fördern.

Diesmal also Tschaikowsky als gut einstündige pausenlose Vorstellung – zu Tonbandeinspielungen (leider!). Vorgespannt und als Epilog eine Klavier-„Berceuse“ von Pjotr Iljitsch – als weibliches Solo – die Seele Tschaikowskys, die sich in klassischer Reinheit (wie das ganze Ballett auf nackter Sohle getanzt) nach Erlösung aus ihrer vermaledeiten männlichen Hülle sehnt? So ganz eindeutig ist nicht, was Schindowski mit dieser „Letzten Symphonie“ will. Jedenfalls nicht die sinfonische Programmierung der Sinfonie à la Massine. Auch nicht eine Abbildung ihrer musikalischen Strukturen nach dem Muster von Balanchine. Und schon gar nicht eine Stationenfolge seines Lebens, wie sie Breuer so grandios gelungen ist. Eher scheint es ihm um ein choreografisches Psychogramm des Komponisten und seiner konfliktreichen Seelenzustände zu gehen.

Dabei hätte ich mir ein kontrastreiches Eingehen auf die musikalischen Strukturen und auf deren Inhalt gewünscht – besonders auf ihre lyrischen Meditationen und die eskalierende Wucht ihrer Marschformationen. Auch fehlten mir deutlichere Zäsuren bei den musikalischen Einschnitten – insgesamt eine reichhaltigere Choreografie statt der immer wiederkehrenden Schrittarrangements in diesem grundsätzlich klassischen Idiom, modern verfremdet durch den konsequenten Verzicht auf Schläppchen und Spitzenschuh.

Gut gelungen erscheint mir der ständige, nie unterbrochene Bewegungsfluss, der sich immer wieder zu skulpturalen, ja architektonischen Formen verdichtet und sich wunderbar organisch und kantabel verdichtet und viele reizvolle Pas de deux und Pas de trois sowie kleinere, auch kontrapunktisch gegeneinander geführte kleinere Ensemblegruppierungen hervorbringt. Sie geben den Gelsenkirchener Tänzern – auf der kostenlos verteilten Programmheft-Broschüre lediglich alphabetisch aufgelistet – exzellente Möglichkeiten, ihre individuellen solistischen Fähigkeiten zu demonstrieren. Und das tun sie mit großem Engagement und Elan. Und sehen sich dafür am Schluss mit lang andauerndem Applaus belohnt. Ja, sie lieben ihre Tänzer im Ruhrpott! Vielleicht ja gerade auch als außerparlamentarische Opposition der Gelsenkirchener Fußball-Dogmatiker.

 

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