Saiten zum Tanzen bringen

„Open Strings“: der neue Ballettabend am Nationaltheater

oe
Mannheim, 04/05/2005

Drei Choreografen mit drei Stücken im neuen Ballettabend am Nationaltheater Mannheim. Der Titel „Open Strings“ bezieht sich einmal auf die am Anfang stehende Komposition für sechs E-Gitarren von John King, dem Hauskomponisten von Kevin 0‘Day, uraufgeführt im Rahmen des Diamond Projects beim New York City Ballet 1997. Und er meint „die offene Saite der Gitarre, die man spielt, ohne sie auf das Griffbrett zu drücken“. Er steht als Motto über dem ganzen Abend, der live musiziert wird – ausschließlich von Saiteninstrumenten. Denn auf John King folgt mit Dominique Dumais‘ „Skin Divers“ das 2. Streichquartett von Gavin Bryars – plus zwei ziemlich blümeranten Gedichten von Anne Michels – ein Stück für vier Tänzerpaare aus der Erbmasse des ehemaligen BerlinBalletts. Und zum Schluss gibt es „Subsistence“ von Robert Glumbek, der aufgefallen war bei den Wettbewerben in Hannover und Stuttgart, choreografiert ebenfalls für vier Tänzerpaare zu Henryk Mikolaj Góreckis Quartett „Quasi una fantasia“.

Zum dritten meint der Titel „Open Strings“ offenbar die Tänzer als offene Saiten, die durch die Klänge zum Schwingen gebracht werden. So weit, so ambitioniert! In O‘Days „Open Strings“ haben die lautstark explodierenden Gitarren offenbar O‘Days Saite außerhalb des Griffbretts in Schwingung – oder eben nicht in Schwingung versetzt. Zwei Tänzerinnen (in Spitzenschuhen!) und drei Tänzer praktizieren da ziemlich gemeinplätzige Neoklassik, ein bisschen jazzig angehaucht, aber ohne den Pfiff, den Robbins‘ ähnlich ambitioniertes „Interplay“ hat. Schon vergessen, während es noch in Gang ist.

Gewichtiger gibt sich Dumais‘ „Skin Divers“, stimmungsdicht verquält hinter einem Gazevorhang, auf den ein überlebensgroßer Frauentorso projiziert wird. Er sieht aus wie eine Körperlandschaft, die die Tänzer geradezu verzwergt, wenn sie hinter oder unter der Haut wie Motions-Alpinisten herumkraxeln. Das Stück suggeriert eine somnambule Atmosphäre und vermittelt einen Einblick in die Folterkammer des modernen Balletts, aber auf einer durchaus poetischen Ebene – wären da nicht die schwülstigen Gedichte der Dame Michels, doch wer außer der Choreografin hört schon auf die! Der tänzerisch lohnendste Beitrag ist Glumbeks „Subsistence“ (wäre ja ganz schön, wenn man den Titel übersetzt bekäme) zu Góreckis sehr dicht gewobenem Musikgespinst.

Da sind sich zwei Polen begegnet – und hier hat man den Eindruck, dass Górecki wirklich die choreografische Saite auf dem Griffbrett von Glumbek zum Schwingen gebracht hat. Ein Kollektiv und eine Individualistin, die sich auflehnen gegen ihr Eingeschlossensein – aber nur der Frau (Tänzer wieder einmal nicht identifizierbar, da alle nur alphabetisch aufgelistet sind) gelingt es, sich über die Mauer zu schwingen und in eine lichtere Zukunft aufzubrechen. Das beginnt mit einem markerschütternden Schrei der Frau, dass man schon wähnt, eine Edvard-Munch-Paraphrase zu sehen zu bekommen, doch der Gedanke verflüchtigt sich rasch wieder. Eine unheilschwangere Atmosphäre brütet über dem Ganzen –vielleicht ja eine Reminiszenz aus dem Polen vor Lech Walesa. Schade, dass sich O‘Day die Gelegenheit hat entgehen lassen, zum Schiller-Jahr endlich einmal für Mannheim ein Schiller-inspiriertes Ballett zu choreografieren.

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