Ausdrucksstarke Mimesis

Die Uraufführung „Visitations“ von Julia Cima im Podewils'schen Palais

Berlin, 14/08/2005

In ihrer Interpretation von zehn Choreografien aus verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gelingt es Julia Cima (Association edna, Paris) in beeindruckender Weise, die Historie der flüchtigen Tanzkunst einzufangen: In Sekundenschnelle wird man in eine andere Zeit versetzt, auf einen anderen Kontinent, und die Luft ist erfüllt von russischem Frühling oder chinesischem Märchenduft. Der Respekt, den Cima den von ihr allein nach persönlicher Vorliebe ausgewählten Choreografen entgegenbringt, wenn sie Soli aus deren Stücken ernsthaft und präzise zu rekonstruieren versucht, überträgt sich auch auf das Publikum, das sich gebannt auf die Reise einlässt.

Nicht technische Perfektion - über die sie gleichwohl verfügt - steht für Julia Cima im Mittelpunkt, sondern detaillierte Bewegungsrecherche, zu der sie alle greifbaren Quellen herangezogen hat. Stets im selben schlichten Kostüm mit bräunlich gemusterter Hose und hautfarbenem Top führt Cima die einzelnen Soli nacheinander auf, die teilweise von Dia- und Videoaufnahmen begleitet oder unterbrochen werden.

Das Solo über die Prinzessin „Kuzu no ha“, das Tatsumi Hijikata, einer der Begründer des Butoh, 1972 in einem Film interpretiert hat, fasziniert ebenso wie die „Revolutionäre Studie“ nach Isadora Duncan. Diese wurde ursprünglich 1921 aufgeführt und von Cima mit Hilfe von mündlichen Überlieferungen mehrerer Tänzergenerationen rekonstruiert. Der Fauststoß in die Luft, mit dem das Solo endet, verfehlt seine Wirkung als authentische Pathosformel revolutionärer Impulse selbst heute nicht. Pantomimisch beeindruckend ist Cimas Darstellung von Valeska Gerts „Mort“ aus dem Jahr 1925, bei dem sie sich zunächst die Lippen rot bemalt, Unverständliches murmelt und dann tonlose Schreie ausstößt, die ihren gesamten Körper in höchste Anspannung versetzen.

Den Abschluss bildet ein Solo nach Waslaw Nijinskys legendärem „Sacre du Printemps“, das bei seiner Premiere im Mai 1913 in Paris einen Theaterskandal auslöste und dessen ursprüngliche Choreografie vermutlich verloren gegangen ist. Auch hier arbeitet Cima mit Quellen wie etwa Nijinkys Tagebuch. Ob nun jeder einzelne Schritt stimmt oder nicht, das interessiert an diesem Abend nicht, denn es geht um die Essenz, und die hat Cima sich erschlossen. Dass die Zuschauer das Programm erst beim Verlassen des Saals erhalten, erscheint sinnvoll. So können sie während der Vorstellung unvoreingenommen darüber spekulieren, von wem, aus welchem Land und aus welcher Zeit die von der Künstlerin reproduzierten Choreografien wohl stammen. Ein fantastischer Abend mit Konzept, von dem man gerne eine Fortsetzung sehen würde.


Weitere Vorstellungen: 13. und 14.8., 19.30 Uhr im Podewils'schen Palais

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