Der alte Marceau und die junge Pantomime

Die rhythmisierte Bewegung des Gedankens fasziniert noch immer

München, 07/08/2005

Sein Ruhm wurde in den 70er Jahren beflügelt, als „Die Kinder des Olymp“ ins Kino kam. Man hatte Jean-Luis Barraults traurigen Baptiste im Herzen, aber verfügbar auf der Bühne war Marcel Marceau mit seinem Bip auf seinen zahlreichen Tourneen. Kann er uns heute mit unseren fast in unserem damaligen Alter stehenden Kindern wohl wieder faszinieren? Ein orchestrales Präludium schuf für das Programm im Prinzregententheater einen groß dimensionierten Rahmen, und ein Herold kündigte nichts Geringeres als „Die Erschaffung der Welt“ an. Nebel wallt im Bühnenzentrum und die Musik geht in Haydns „Air“ über. Da wird der Demiurg sichtbar, lässt Formen entstehen aus seinen Händen, die Fließendes und Flatterndes gebären, und bekommt immer neue Ideen: Der Zweibeiner entsteht, die Frau, die Schlange und der Apfel - vor allem aber der Zauber, die Konzentration auf den Reichtum des Erzählten, genährt durch die Poesie dieser sich ständig wandelnen Figur.

Im „Volksgarten“ zeigt Marceau den jungen Galan, die geschwätzige Näherin, den Jungen mit dem Ball oder den Spaziergänger mit Hündchen, vor allem aber die virtuosen Wechsel zwischen all den Passanten und deren Reduktion aufs Typische, das dank des kolloquialen Mienenspiels charakteristisch und in seiner Wiedererkennbarkeit gesteigert wird. Dabei wirkt der 82-jährige Marceau - die Pantomime als eine der ältesten Künste ist ihrem Wesen nach eine junge Kunst - wie 22 oder 27, ein Alter, in dem Vitalität und Intensität der Beobachtung vielleicht am stärksten sind. Für all die Personenwechsel kommt er mit minimalen Akzenten aus, denn mit genialer Formfindung evoziert sein ganzer Körper jede neue Rolle augenblicklich. In „Der Kunstmaler“, einer Miniatur mit ständigem Bezug auf eine imaginierte Staffelei, kommt die Erschaffung des Räumlichen dazu. In „Die Bürokraten“ führen seine Bewegungen, kleiner, verwinkelter und serviler werdend, hoch und höher in die Chefetagen, doch all die Wege bleiben, satirisch und kafkaesk zugleich, ohne Ziel.

Dramaturgisch schlüssig folgte „Der Gerichtshof“, eine detaillierte und rhythmisierte Choreografie von Reden, die mit der Rückblende auf einen Straßenraub vom Opfer bis zum Henker eine ganze Welt entstehen ließ. Zu den beeindruckenden Details gehörte, wie sich Marceau - ist nicht auch „David und Goliath“ in seinem Repertoire? - von einem Großen in einen Kleinen wandelte, je nachdem ob er Ankläger oder Verteidiger war. Die „Pantomimes de style“ der ersten Programmhälfte überzeugten als Übungen körperlicher Virtuosität, die sie ja anfangs waren, boten aber auch gedanklich und stilistisch viel. „Die Hände“ mögen dafür ein Beispiel sein. Zu den hohen Stimmen eines Chorals zeigt die Rechte im fließenden Strom der Weisheit segnende Gebärden, die Linke zu den tiefen Stimmen im statischen Drohen strafende. Beide formen in ihrer Vereinigung eine Kathedrale. Nach dieser formal äußerst reduzierten großen Erzählung rundete sich der erste Teil zu einem grandiosen gedanklichen Bogen: Wieder erklang Haydns „Air“, und ohne den Spot in der Bühnenmitte zu verlassen durchlief Marceau in „Jugend, Reife, Alter, Tod“ den ganzen Lebensweg eines Menschen, vom strahlenden Aufbruch zur Müdigkeit des Alters schrumpfend - nicht seiner eigenen, denn ihm steht nach wie vor die Energie der Jugend zu Gebote.

Vivaldi-Klänge leiteten die „Pantomimes de Bip“ und damit die zweite Programmhälfte ein, zugleich die amüsantere, obwohl zur Gestalt des Bip, die Marceau bereits 1947 kreiert hat, ein tragisches Misslingen immer dazu gehört. So beim selbstherrlichen „Löwenbändiger“, der über die Widerspenstigkeit des Löwen selber zum Dressierten wird, oder in „Bip als großer Musiker“, der sich mit seinem Geigenspiel gegen Marschmusik nicht behaupten kann und am Ende resigniert Pauke haut und Becken schlägt. „Bip als Porzellanverkäufer“ muss Gefäße von einem so hohen Regal holen, dass er sie dort nur mit einem Teleskop erkennen kann. Das Leitersteigen hat Marceau früher wohl athletisch ausgefeilter dargestellt, aber Bips Zittern von Herz und Knien dort oben konnte nicht nachfühlbarer sein. Insgesamt wirkten die Bip-Pantomimen nicht ganz frei von Längen, aber es kamen immer wieder die Momente, in denen die Figur so plastisch dastand, dass der Meister als Original so vieler Abbildungen und Epigonen mit seiner selbstverständlichen Präsenz bezauberte.

Das Finale bildete - signifikant - „Der Maskenmacher“, Marceaus wohl berühmtestes Einzelstück. Die Masken, die er aufsetzt, sind natürlich sein eigenes Gesicht. Er reißt die jeweiligen Charaktere an und tauscht die Masken aus, bis eine bleibt: Das grelle Lachen! Hinter dieser Maske, die er nicht mehr entfernen kann, widersprechen sich Gesichtsausdruck und Köpersprache immer brutaler, bis nach verzweifeltem Kampf das wahre Gesicht wieder hervorkommt - das des gespannt staunenden Menschen. Chapeau!
 

Besprochene Vorstellung: München, 02.08.2005
Link: 
www.marceau.org

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