Andersons Ballett-Agenda 2005

Zur Wiederaufnahme von Marcia Haydées „Dornröschen“

oe
Stuttgart, 17/07/2005

Ganze achtzehn Lenze jung – ein Teenager zum Verlieben: so präsentiert sich Stuttgarts „Dornröschen“, erneut wachgeküsst, zum Saisonschluss dem entzückten Publikum. Und sie kommen in Scharen, jedes Mal 1396 Ballettverliebte, ins Große Haus. Der Andrang ist so gewaltig, dass die Dienstleistenden an manchen Tagen zwei Schichten einlegen müssen. Und die Zuschauer verlassen nach dreieinhalb Stunden die Vorstellung, beseligt wie Honeymooner. Stuttgart – ein schwäbisches Gretna Green des Balletts! 1987, zum fünfzigsten Geburtstag von Marcia Haydée ein sündhaft teures, durch mancherlei Sponsoren ermöglichtes Geschenk, hat es der Stadt und dem Land reiche Dividende eingebracht.

Man denke zurück an die Spielzeit 1986/87 –-wer erinnert sich heute noch an Hollmanns ordinäre „Fledermaus“, an eine damals neue „Butterfly“, an Bob Wilsons so groß angekündigte „Alceste“, schon eher an Kupfers Zimmermann-„Soldaten“ und Friedrichs „Frau ohne Schatten“. Doch was ist von ihnen übriggeblieben? Dagegen Haydées und Jürgen Roses „Dornröschen“: es strahlt und strahlt und strahlt – nach wie vor wie aus dem Ei gepellt! Die Stuttgarter Aurora hat es aber auch gut! Sie muss nicht hundert Jahre warten, um wachgeküsst zu werden. Ihr genügen ein, zwei, höchstens drei Spielzeiten Tiefschlaf – und der Kuss bewirkt das Wunder. Der Prolog: ein Traum in Blau wie von Watteau. Der Geburtstagsakt sodann: kein Sacre, sondern eine frisch begrünte Fête du printemps. Die Visionsszene: eine Blätter-Phantasmagorie in Rostrot (aber wo ist der Panorama-Transportlift abgeblieben?). Lediglich das kunterbunte Laubsäge-Finale driftet dann in ein Stuttgarter Disney-Land ab. Aber da sind alle ohnehin schon total beschwipst, dass sie‘s gar nicht mehr bemerken.

Stuttgart hat auch eine neue Aurora, eine Bürgerliche namens Maria Eichwald, zur Prinzessin geadelt durch ihre porzellanfeinen Handgelenke und ihr atemberaubendes Equilibre. Und einen Prinzen Desiré aus der lokalen Tänzerdynastie derer von Vogel, Friedemann mit Namen – einen somnambulen Luftsegler, Nachkomme des Ikarus – aber einer, so kontrolliert, dass er sich hütet, sich seine Füße zu versengen. Und ein neuer Delegierter aus hochherrschaftlichem Höllenadel ist zur Stelle: Ivan Gil Ortega, ein Abgesandter der Schwarzen Romantik – so voller Power, dass er sich auch von Birgit Breiners begütigender Fliederfee nicht beeindrucken lässt und bis zum Schlussvorhang das Sagen hat: so ist sie nun einmal, die Welt – allen Auroras, Desirés und Humanitätsapostelinnen zum Trotz!

Und die Stuttgarter sind so mit Leib und Seele, mit Armen und Füßen, mit Blicken und liebevollen Gesten dabei, dass richtige Hoch-Zeit Stimmung aufkommt – all diese Prinzessinnen und Prinzen, Feen und Waldgeister, Hofdamen und Hofherren, Gärtnerinnen und Gärtner, die Abgesandten der Brüder Grimm und die aus dem Abattoir des Mephisto, nicht zu vergessen die schnuckelige Elizabeth Mason und der kraftvoll seine Schwingen ausbreitende Jason Reilly aus der blauen Voliere, der smarte Juwelenhändler alias Alexander Zaitsev mit seinen vier hochkarätigen Juwelen (unter ihnen auch die – hoffentlich zu einem Kuranyi-Preis – nach München verkaufte Roberta Fernandes) nebst den putzigen Kleinwüchsigen (denn wer wagt hier noch von Zwergen zu reden?) aus der John Cranko-Schule – sie alle beglaubigt mit dem Siegel aus dem Stuttgarter Ehrenkodex des Reid Anderson! Habe ich richtig gehört, dass die Prä-Teenager-Ballerina in spe während der Pause erklärte, dass sie allen Ernstes entschlossen sei, eine E-mail an Harry Potter zu senden mit der Bitte, ihr unverzüglich eine Tarnkappe herbeizuzaubern, damit sie sich in die noch restlichen vier Vorstellungen der laufenden Spielzeit einschleichen könne?

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