Überleben in der Ballettprovinz

Landestheater Detmold: Cinderella

Detmold, 30/04/2004

50 bis 60 Abstecher in jeder Spielzeit - von Helmstedt im Osten über Düren im Westen, von Worms im Süden bis zu Itzehoe im Norden bei entsprechend langen Fahrten - mit Auftritten in Musical, Operette, Oper muss das achtköpfige Tanzensemble des Landestheaters Detmold bewältigen, dazu addieren sich die Vorstellungen im eigenen Haus. Woher sollen da Zeit und kreative Muse genommen werden, einen eigenständigen Ballettabend zu produzieren? Dem zum Trotz wagte es Ballettmeister Richard Lowe, seit vergangener Spielzeit im Amt, die anspruchsvolle „Cinderella“ von Prokofjew auf die Bühne zu bringen. Das Zustandekommen allein ist schon ein Erfolg. Dirigent Boris Anifantakis führt das Orchester kompetent zu prägnantem, differenziertem Ausdruck und stimmigen Tempi, mit leichter Tendenz zur Vergröberung.

Die Tänzer*innen schlagen sich respektabel, allen voran Patricia Bernardi mit frischem Zugriff auf die erst gebeutelte, dann erhobene Cinderella. Erst in den letzten zwei, drei Minuten darf sie zeigen, dass sie auch auf der Spitze durchaus bestehen kann. Bis dahin tanzt sie mit weitgehend fließender Phrasierung auf flachem, ziemlich häßlichem Schuh, mag er auch im Ballbild golden sein. Dafür müht sich Vasileia Sakellariou mit versteinerter Miene als gute Fee auf der Spitze ab. Von der Kultur des Plié scheint der begabte, offenbar blutjunge Jeronimo Romero Gonzalez noch nichts gehört zu haben: Er demonstriert als Prinz sein gutes Sprungvermögen mit schön gestreckten Füßen, landet aber hart. Die mehr beliebig gestreuten als miteinander verbundenen Bewegungsfolgen zerhackt er noch mehr durch staksige Übergänge. Matthew Sly, Freund des Prinzen, tut es ihm gleich. Die Stiefschwestern Patrizia Ciná und Leah Taylor, bonbonfarben gewandet, die eine exzessive Raucherin, die andere süchtig nach Zuckerwatte, geben dem Affen durchweg kräftig Gagfutter, wie auch die Stiefmutter, verkörpert von Svetozar Tchenichev en travesti in dornig ausladendem Kostüm (Claudia Schinke) und der stets besoffene Vater (Konstantin Tscherkaschin). Schnell ermüdet die ständige Wiederholung der ewig gleichen Possen.

Das Bühnenbild (Manfred Kaderk) schafft durch Zwischenvorhang mit überdimensional aufgemalter Krone, durch geschickte Andeutungen des Hauses und des Palastes durchaus Stimmung, schnürt aber durch deren ungünstige Anordnung die freie Fläche stark ein.

Choreograph Richard Lowe verharrt im klassischen Kanon, ohne dass eine individuelle Handschrift oder ein geschicktes Arrangement zu erkennen wäre. Der Auftritt der Cinderella beim Ball des Prinzen beispielsweise verpufft ohne Wirkung, nicht nur wegen ihres ziemlich ärmlichen Ballkleides, sondern auch weil sie wie nebenbei im Hintergrund erscheint. Die Musik Prokofjews besetzt Lowe an einigen Stellen anders (abgesehen von den Kürzungen): Wenn beispielsweise die dramatische Uhrenmusik kurz vor Mitternacht einsetzt, ist Cinderella schon nicht mehr auf der Bühne. Dazu leistet sich Lowe einige dramaturgische Ungereimtheiten: Der Prinz taucht beispielsweise im ersten Akt als Diener verkleidet im Haus der Familie Cinderellas auf (was er dort macht, bleibt offen), trifft sie dort, schaut sie ausgiebig verliebt an - um sie dann auf dem Ball nicht wiederzuerkennen und nach ihrem Verschwinden lange nach ihr zu suchen.

Im kahlen Ballbild, wo acht Lakaien des Bewegungschores lediglich Cinderellas Familiemitglieder als Gäste zu bedienen haben, wird zudem schmerzhaft sichtbar, wie das Mini-Ensemble auf kaum überwindbare (Größen-)Grenzen stößt. Besserung ist nicht in Sicht. Zwar bekannte die Mitgliederversammlung des Landestheaters sich in einer Pressemitteilung vom März 2004 uneingeschränkt zum 3-Sparten-Theater, zog daraus allerdings nicht den Schluss, die Tanzgruppe in Zahl und Arbeitsmöglichkeiten besser zu stellen als bisher: also aufzustocken, Trainingsleiter*in und Ballettkorrepetitor*in zu engagieren. Kein Wunder, kürzte doch das Land Nordrhein-Westfalen seine Zuschüsse an das Landestheater um 600 000 Euro (bei einem Gesamtetat von mehr als 16 Millionen Euro), dafür erhöhten die zuschusspflichtigen Träger der Bühne ihre Zuschüsse um rund 700 000 Euro. Um den Wirtschaftsplan 2004 auszugleichen, hat die Theaterleitung 23 Stellen aller Bereiche ganz oder teilweise gesperrt. Also: kaum Hoffnung für das Ballett, aus der Sackgasse herauszukommen. Allein schon die hohe Fluktuation verhindert den langfristigen Aufbau eines ausgeglichenen Ensembles.

In jedem Jahr leben Ballettmeister und Gruppe also von der Hand in den Mund. Dennoch will Richard Lowe 2004/05 „Die Geschichte vom Soldaten“ (plus ein weiteres Ballett) stemmen und den „Nussknacker“ in der übernächsten Spielzeit anbieten. Der Bedarf besteht zweifellos, wie der herzliche Beifall des Publikums im gut besetzten Haus zeigt.

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