Henrietta Horn und das Folkwangstudio

oe
Ludwigsburg, 19/06/2003

Zwei Stücke, beide etwa eine halbe Stunde lang, so unterschiedlich, dass man sie kaum derselben Choreografin zugeordnet hätte. Am Schluss enormer Beifall des rappelvollen Karlskasernen-Auditoriums für Henriette Horn und die fünf plus fünf Tänzerinnen und Tänzer des Essener Folkwang Studios. Zu Beginn „Solo“, von ihr selbst 1999 kreiert, eine Studie über Einsamkeit und Isolation, wie sie strenger kaum denkbar ist, hier nun zelebriert als ein Performance-Ritual von Mu-Yi Kuo. Auf der lichtmarkierten Bühne (Reinhard Hubert) nur ein quadratischer Tisch plus Stuhl und eben sie, die Tänzerin, sitzend, minutenlang bewegungslos ausharrend, bevor sie mit Minigesten am Tisch beginnt, sich aufrichtet, mit weiter ausholenden Gesten eine Art stumme Konversation mit dem Tisch und Stuhl beginnt, den Stuhl langsam nach hinten transportiert. So wird aus dem Solo allmählich ein Solo zu dritt. Doch dauert es noch eine ganze Weile, werden Tisch und Stuhl noch ein bisschen hin und her geschoben, bevor sie sich tanzend, mit schnellen, aber immer wieder abgebrochenen Bewegungen den Raum erobert. Was sie tanzt, ist ein großes Lamento, das ich mir gut auch als Solo in Schlömers „Les Larmes du ciel“ vorstellen könnte. Die gemeinsame Beziehung zu Folkwang offenbar! Sehr eindrucksvoll, zweifellos – aber doch auch reichlich lang, vor allem der sich hinschleppende Anfang.

Horn hat es mit den Stühlen! Deren acht stehen paarweise im Raum herum – für die zehn beteiligten Tänzer. Das Stück heisst „Auftaucher“ – wohl der Beleuchtung wegen (wieder von Reinhard Hubert), die sie aus dem Dunkel herausholt, wie in Videoclips. Das Merkwürdige, dass es in all ihren Paarungen – und die geschehen auf die unterschiedlichste Weise – so gut wie keine körperlichen Berührungen zwischen den Partnern gibt – dafür aber ständig parallele, symmetrische und auch komplementäre Bewegungsarrangements – auffallend häufig in diagonaler Körperhaltung. Gleichwohl ist die Spannung zwischen überwiegend Duo-Partnern hoch explosiv, die dann auch in großen Ensembles gleichsam explodiert. Einer hat ein faszinierendes Solo, in dem er seinen Körper und seinen Stuhl wie ein Schlagzeug einbringt. Einer spielt sich wie ein Diktator auf, der die Masse der anderen unter seinen Willen zu bringen versucht, die sich aber gegen ihn auflehnen. Es gibt ein fulminant gesteigertes Tango-Ensemble.

Am überraschendsten ist aber ein Zweikampf, den zwei Männer par distance ausfechten, ohne sich auch nur einmal zu berühren. Sie bekämpfen einander lediglich mit Blicken – und doch wogt die Spannung zwischen ihnen hin und her, bis der eine schließlich zu Boden geht. Im turbulenten Finale (so scheinbar chaotisch turbulent, dass man es eben nie der Choreografin des „Minimal-Solos“ zugetraut hätte), steht der Unterlegene dann wieder auf, fordert den Sieger zu einer weiteren Runde auf und zwingt ihn nun seinerseits zu Boden – auch das ohne ihn auch nur einmal zu berühren. Die tragen ihren Fight also rein in Gedanken aus. Ein Tanz der Gedanken also: ‚Danz, pensiero, sull´ali di piedi‘! Auf was Choreografen heutzutage so alles kommen! Jedenfalls höchst spannend anzusehen. Und ganz und gar individuell!

Das Shanghai Ballett, die brasilianische Quasar-Kompanie, dann die „Trauer muss Schlömer tragen“-Produktion, an diesem Abend Henrietta Horn mit ihren Folkwangisten (übrigens nicht ohne ihren eigenen Humor) und 24 Stunden später bereits wieder Nederlands Dans Theater I, während das Stuttgarter Ballett sein „UK/US Moves“-Programm tanzt – und das alles binnen einer Woche in Schwaben, das einmal die Hochburg der Pietisten war! Quel embarras de richesses!

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