„Die deutsche Tanzmoderne Dresden und der Ausdruckstanz"

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Dresden-Hellerau, 01/11/2003

Hellerau: der Name allein ist so ungeheuer schwer von Geschichte! Und während ich durch die Allee auf den mächtigen Portikus von Heinrich Tessenows Festspielhaus zuschreite, wähne ich mich in den Fußstapfen von Max Reinhardt und Henry van de Velde, Jacques-Dalcroze, Wigman, Rambert, Diaghilew und Nijinsky, von Kokoschka und Rilke, von Appia und Hauptmann, von Kratina und Chladek. Der ideale Ort – wenn auch die Renovierungsarbeiten nur mühsam vorankommen – für eine der Zentralveranstaltungen des Dresdner „TANZherbst 2003“: „Die deutsche Tanzmoderne – Dresden und der Ausdruckstanz: Wigman, Palucca, Kreutzberg, Vogelsang, Hoyer“. Werden wir die Liste der Prominenten in nicht allzu ferner Zukunft um den Namen William Forsythe ergänzen können? Hoffentlich! Man wünscht es den Dresdnern. Denn gegenwärtig ist der Mythos Hellerau noch so vergangenheitslastig, dass keine Gegenwartskreativität dagegen ankommt.

An diesem historischen Ort nun also die Begegnung mit den Protagonisten des deutschen Ausdruckstanzes, wiederbelebt von Mitgliedern des Palucca Tanz Studios. Das Publikumsinteresse scheint enorm: die Leute sitzen dicht an dicht, hocken am Boden, drängen sich in den Gängen. Kurze biografische Kommentare nebst Fotoprojektionen vor den einzelnen Programmnummern, fünf an der Zahl – zweimal die Zuschreibung „Choreografie nach“ (Wigman und Hoyer), dreimal der Versuch einer Rekonstruktion des Originals (Palucca, Kreutzberg, Vogelsang). Fünf stilistisch völlig unterschiedliche Identitäten. Gemeinsam ist ihnen ihre hochgradige musikalische Sensibilität. Verblüffend die weite Skala ihres jeweils ausgesprochen individuellen tänzerischen Bewegungsvokabulars.

Expressionismus in Reinkultur ist Wigmans „Hexentanz“ (explosiv, bis ans Dämonische reichend: Anna Skatshkova). Bei Palucca hätte ich nie diese hinschmelzende Weichheit ihrer „Serenata“ vermutet (Maria Zimmermann mit wunderbar flüssigen Armkurvaturen). Weniger befreunden konnte ich mich mit der manierierten Trippelei von Kreutzbergs „Phantastischem Walzer“ – so weit entfernt von der angestrebten Phantastik E.T.A. Hoffmanns (zu der ja auch die Musikwahl so überhaupt nicht passt – Chopins Grande valse brillante, getanzt von Dennis Dietrich). Dann drei „Präludien“ von Marianne Vogelsang: sicher sehr schön und raumsouverän und auch wieder sehr musikalisch – aber doch merklich indifferent gegenüber Wigman und Palucca (und Hoyer – Tanz: Robert Kraus, Helene Sophie Wawer und nochmals Dennis Dietrich). Ganz stark dann aber der Schluss, Hoyers „Affectos humanos“, direkt anknüpfend an Wigman, doch deren direkt illustrativen Expressionismus überführend in einen quasi abstrakten Expressionismus mit noch weiter zugespitzter Gestik (fabelhaft: Julia Kathriner und Marianne Koch).

Für die choreografische Authentizität kann ich mich natürlich nicht verbürgen – wohl aber für die nach wie vor wirkende theatralische Effizienz von Wigman, Palucca und Hoyer – ganz ohne Zwischenschaltung des historischen Bewusstseins. Bei Kreutzberg und Vogelsang bin ich mir da nicht so unbedingt sicher.

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