Der Sterbende Schwan?

Die Ballett-Gala des Mariinsky Theaters: Liebe auf den zweiten Blick

Frankfurt, 24/04/2003

„Chopiniana“, Michail Fokines Huldigung an den von Marie Taglioni und Charlotta Grisi geprägten Spitzentanz der romantischen Epoche, umriss als Eröffnungsstück den zeitlichen Horizont der Gala in Frankfurt. In seiner Abkehr von der Virtuosität der Petipa-Epoche lenkte Fokine 1908 den Blick nicht nur auf Fillippo Taglionis „La Sylphide“ von 1832, sondern er schuf auch das erste neoromantische Ballett des 20. Jahrhunderts.

Mit dieser Choreographie, die Serge Diaghilew 1909 in der ersten Saison der „Ballets Russes“ u. a. mit Anna Pawlowa und Vaslaw Nijinsky nach Paris brachte, begann die Geschichte des abstrakten, handlungslosen Balletts. Von George Balanchine, seit 1925 Chef-Choreograf der Ballets Russes, stammte mit dem 1960 in New York entstandenen „Tschaikowski-Pas de Deux“ die jüngste Choreografie des Abends, dessen Programm neben Fokines Solo „Der Sterbende Schwan“ drei Pas de Deux von Marius Petipa sowie dessen „Paquita, Grand Pas“ vervollständigten. Vielfältige Verbindungslinien zwischen den genannten Stücken sprachen für diese Zusammenstellung, doch fehlte die Brücke zur Gegenwart.

Spätestens als das lange Prélude vor rot beleuchtetem, aber geschlossenem Vorhang dräuend vom Tonband schepperte, musste man fürchten, dass sich das Frankfurter Publikum in einem Museum wähnte. So blieb das Eröffnungsbild, das in St. Petersburg regelmäßig Beifall erntet, ohne Applaus, und obwohl Stil und Gleichmaß des in langen Tutus luftig schwebenden Corps de ballet gleich ein Achtungszeichen setzten, dauerte es, bis das Eis gebrochen war. Daniil Korsuntzew stützte seine Ballerinen elegant und nutzte in seinen ruhig schwingenden Sprüngen und Armbewegungen effektvoll sein langgliedriges Gardemaß, Elwira Tarassowa tanzte im Walzer dezent-duftig, Daria Pavlenko erfüllte ihre Passagen mit einer wunderbaren inneren Phrasierung, und Irina Schelonkina gewann zur Präzision allmählich an Lebendigkeit. Denn als die Solisten merkten, dass dies kein Heimspiel war, legten sie noch einmal zu. Immer mehr wurde ihr Tanz als Meditation über das romantische Ballett erkennbar und somit über die Zeit erhaben. Konzentration und Stilsicherheit bewirkten das, und als die Choreografie in heitere Verspieltheit mündete, konnte man die stilistischen Feinheiten so detailreich akzentuiert sehen, wie das wohl kein anderes Ensemble in der Welt zeigen kann.

In dem hierzulande selten getanzten „Arlekinada-Pas de deux“ tanzten Jelena Scheschina und Andrej Iwanow, durch ihre Statur für Petipas Ballettkomödie prädestiniert, hochvirtuos mit humorvollen Attituden. Aber ihre allzu gekonnte Komik blieb schablonenhaft. Ein Hauch des Musealen umwehte auch Petipas „Le Corsaire“: Faruch Ruzimatow bot zwar noch Charisma und zwingende Präsenz, auch Höhe und schöne Linie, aber seine Sprungkraft erschlaffte jenseits der Einzelsprünge, und deshalb blieb u.a. seine Grand Manege matt. Und Irma Nioradze, immerhin Erste Solistin, stakste ziemlich eckig durch diesen Pas de Deux, den beide nie richtig in Fluss brachten. Gala-Glück war erst im „Tschaikowski Pas de deux“ von George Balanchine voll zu genießen: Bei Andrian Fadeev waren die hohen Sprünge und Capriolen in einen Überschuss an Kraft und Sicherheit gebettet, setzte sich jede Landung weich in eine stilreine Pose fort, gerieten alle Schritte und Pirouetten wie Exempel aus dem Lehrbuch. Und wer war diese junge, wirbelnde Nachwuchs-Ballerina? Hier gibt der Rezensent zu, sich sehr geirrt zu haben, denn da tanzte Shannah Ayupova, bereits seit 1987 Erste Solistin, wie ein junges, warmherziges Mädchen! Mit Fadeev präsentierte sie diesen „Tschaikowski Pas de deux“, den das Mariinsky Theater 1998 erwerben konnte, nicht nur mit den technischen und stilistischen Erweiterungen Balanchines, sondern auch so, dass man fühlte, warum diese Musik nicht in die Dramaturgie des „Schwanensees“ passte und dort ungenutzt blieb: Es wäre ein zu ausführlicher Tanz des Glücks gewesen. Das Solo „Der Sterbende Schwan“, mit hoher geistiger Transparenz von Daria Pavlenko getanzt, wehte einen Hauch von Tragik in den Zuschauerraum, wo jetzt, auch wenn das nicht die ganz große Offenbarung war, der Zauber wirkte.

Der Mittelakt endete mit „Don Quijote“. Als Partner der technisch souveränen Elwira Tarassowa mit ihren spektakulären Balancen sah man Leonid Sarafanov, der als Nachwuchs-Hoffnung gilt. Er kann technisch alles und präsentierte sich bereits sehr selbstbewusst. Wird er, der noch den schmalen Körper eines Jungen hat, in die Reihe der großen Tänzer Rusimatow, Zelenski und Fadeev aufsteigen? In Petipas „Paquita Grand Pas“ von 1881 zeigte Top-Star Igor Zelenski, dass er nach seiner mehr als einjährigen Verletzungspause die Bühne wieder kraftvoll und elegant in Besitz nimmt. An seiner Seite vertrat Sofia Gumerowa an diesem Abend den anderen Superstar Swetlana Sacharowa. Auch die vier Variationen, in deren letzter Irma Nioradze doch noch ihre Stärke zeigte, wurden ansprechend getanzt. In diesem Finalstück beeindruckte aber vor allem die glanzvolle Ensemble-Wirkung, ergänzt durch vorzügliche halbsolistische Reihen.

Fazit: Die Kompanie des Mariinsky Theaters erreichte mit ihrem faszinierenden tänzerischen Potential sogar das Frankfurter Publikum, leidet aber doch darunter, dass ihr Repertoire so weitgehend unzeitgemäß ist. William Forsythe antwortete vor einem Jahr auf einer Pressekonferenz in St. Petersburg auf die Frage, was er als moderner Choreograf am Mariinsky Theater wolle: „Jeder von uns hat Großeltern und mag sie, aber er führt sein eigenes Leben.“ Er zeigte sich im Anschluss an diese Gala erneut sehr inspiriert, mit den großartigen St. Petersburger Tänzern zu arbeiten.

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