Colum McCann: „Der Tänzer“

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Stuttgart, 10/10/2003

Ist es wirklich so gewesen? Die Frage ist falsch gestellt! Denn Colum McCann behauptet ja nicht, eine – weitere – Biografie über Rudolf Nurejew geschrieben zu haben. Unmissverständlich stellt er fest: „Dies ist ein Roman. Mit Ausnahme einiger Personen des öffentlichen Lebens, die ihre wirklichen Namen tragen, sind alle hier geschilderten Personen, Namen und Ereignisse frei erfunden.“ Immerhin: so könnte es gewesen sein, das Leben dieses Shooting Stars unter den Tänzern des 20. Jahrhunderts. McCann ist ein angesehener irischer Schriftsteller, der seit längerem in Amerika lebt und mehrere Erzählbände, aber bisher offenbar noch nichts über den Tanz veröffentlicht hat. Doch er hat gründlich recherchiert, und er kennt sich aus – nicht nur, was die Biografie Nurejews angeht, den familiären Hintergrund, die Stationen seiner Weltkarriere und die Schauplätze seiner exzessiv ausgelebten Privatexistenz, sondern beispielsweise auch über die Anatomie und das Funktionieren eines Tänzerkörpers. Darüber hinaus ist er mit einem augenscheinlich hellseherischen psychologischen Instinkt und einer blühenden Fantasie begabt: ein literarisch souveräner, auch stilistisch höchst versierter Autor (zudem blendend übersetzt von Dirk van Gunsteren).

McCann schreibt über Nurejew aus sehr verschiedenen Perspektiven. Er beginnt wie ein Dokumentarfilmer über das triste Leben in der hintersten baschkirischen Provinz während der entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahre. Schildert dann die ärmlichen häuslichen Verhältnisse der auf die Rückkehr des Vaters wartende Familie, der mit den tänzerischen Firlefanzereien Rudiks so ganz und gar nicht einverstanden ist und will, dass der einen seriösen Beruf ergreift. Und doch nicht verhindern kann, dass ein Dämon von seinem einzigen Sohn Besitz ergreift – schon in seinem Heimatort Ufa, erst in einer Folkloregruppe, dann im Studio einer Ex-Kirow-Tänzerin und am dortigen Opernhaus. Das sind Skizzen wie von einem Gogol des 20. Jahrhunderts. Dann heißt es Blende auf für die Studienjahre bei Puschkin in Leningrad, der ihn in sein Haus aufnimmt. Seine nicht zu zähmende Aufmüpfigkeit. Seine ersten erotischen Eskapaden.

Nichts dagegen über seinen ersten westlichen Auftritt in Wien – nichts über seine dramatische Flucht beim Gastspiel des Kirow-Balletts in Paris – nichts über seine Zusammenarbeit mit den berühmtesten Choreografen, umso mehr über die Repressalien, denen seine Familie in Ufa über Jahre ausgesetzt ist. Es folgen Short Cuts seines immer hektischeren Lebens: Reminiszenzen seiner Schwester, seiner Kommilitonen, seines Schuhmachers, seiner Haushälterin, seines Masseurs und Bodyguards, seiner Karriere rund um den Globus, seiner symbiotischen Partnerschaft mit Margot Fonteyn, seiner – übrigens in Stuttgart entfachten – amour fou mit Erik Bruhn, seiner Sex- und Drogen-Orgien, wo immer sich die Gelegenheit dazu bietet, des letzten Besuchs bei seiner sterbenden Mutter, die ihn schon nicht mehr erkennt.

Unentrinnbar verstrickt McCann den Leser in den zerstörerischen Drive dieses Lebens. Gern hätte man mehr gewusst über Nurejews Rolleninterpretationen, über seine Inszenierungen der Repertoire-Klassiker, über seine choreografischen Ambitionen. Doch, wie gesagt: dies ist keine Biografie, sondern ein Roman – ein Annäherungsversuch an einen Menschen, der wie eine an beiden Enden brennende Fackel über die Bühnen der Welt loderte. Ihm zu nahe zu kommen, beschwor unweigerlich die Gefahr, in seinen Feuersog gerissen zu werden. (Colum McCann: „Der Tänzer“, Rowohlt Verlag, Reinbeck 2003, 473 Seiten, 22,90 Euro)

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