Das St. Petersburger Neumeier-Dossier

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Stuttgart, 21/10/2001

Ein halbes Jahr nach der St. Petersburger Premiere des Neumeier-Triptychons am Marientheater erreicht uns endlich ein Dossier, das detailliert über die Arbeit, das Ergebnis und den Erfolg des Unternehmens Auskunft erteilt. Dahinter steht nicht etwa eine konzentrierte Aktion der deutschen Tanzpublizistik, für die diese St. Petersburger Initiative praktisch ein Non-Event war (inklusive unserer so sehr auf Internationalität bedachten Ballettanz-Zeitschrift), sondern der Kreis der Hamburger Ballettfreunde. Die präsentieren hier auf 29 hektographierten DIN-A4-Seiten Artikel, Interviews und Kritiken, die in der russischen Presse über dieses Ereignis erschienen sind – in deutschen Übersetzungen und teilweise auch im russischen Original (dazu als einzige deutsche Publikation ein Interview mit Neumeier aus der Welt am Sonntag). Eindeutig geht daraus der gar nicht hoch genug zu bewertende Stellenwert des Unternehmens hervor, den die Russen selbst diesem Unternehmen beigemessen haben – nach ihren ersten vorsichtigen Annäherungsversuchen an den westlichen choreografischen Standard durch ihren Import von Balletten Balanchines, Roland Petits und Kenneth MacMiIllans.

Erstmals können wir uns daraus auch ein etwas genaueres Bild davon machen, wieviel an Autobiografie in Neumeiers für St. Petersburg geschaffenem Ballett „Sound of Empty Pages“ zum Konzert für Viola und Orchester seines toten Freundes Alfred Schnittke steckt. Dass außer der Moskauer Korrespondentin keiner der befragten zwanzig Kritiker für die Umfrage des Jahrbuchs 2001 das St. Petersburger Neumeier-Triptychon für die Kategorie „Wichtige Produktion“ nominiert hat, ist für mich ein Beweis für die eben durchaus nicht internationale Perspektive unserer Tanzkritik. Und das finde ich durchaus nicht gut so, sondern eher beschämend!

Dazu noch ein Nachwort! In der Vorankündigung für die St. Petersburger Premiere wurde Faruk Ruzimatov, einer der Superstars des Marientheater-Balletts, noch für eine der Hauptpartien angekündigt. Auf dem Besetzungszettel der Premiere fehlte allerdings sein Name. Im Septemberheft der englischen Dancing Times erschien dann ein Interview ihres ständigen russischen Korrespondenten Igor Stupnikov – der sich bereits vorher mit einem überaus positiven Bericht über die Uraufführung zu Worte gemeldet hatte –, das er mit Ruzimatov geführt hatte. Hier der Originalton!

Frage I. S.: John Neumeier, der gerade drei Ballette am Marientheater einstudiert hat, hat gesagt, dass die Kompanie noch immer nach den Prinzipien des 19. Jahrhunderts organisiert ist – ein riesiges Corps de ballet, während Individualität nicht immer kreditiert wird. Stimmen Sie dem zu? – Antwort F. R.: John Neumeier hätte sich nie auch nur träumen lassen, je eine Gelegenheit geboten zu bekommen, mit Künstlern von dem Format zusammenzuarbeiten, wie sie ihm das Marientheater zur Verfügung gestellt hat. Ich weiß nicht, was er meint, wenn er von „organisiert nach den Prinzipien des 19. Jahrhunderts“ spricht.
Die Kompanie ist vollkommen modern – sie ist voll im Einklang mit der Zeit, ja ihr sogar voraus. Das Theater ist im Recht, indem es sein klassisches Repertoire aufrechterhält, zusammen mit neuen Produktionen. Jegliche Betonung neuer Stücke würde mich ihm entfremden. Für mich steht das Theater für „Dornröschen“, „Giselle“, „La Bayadere“ und „Schwanensee“ – nicht für Neumeier. Er ist nur zweitrangig an diesem Theater. Er ist die Nummer eins in Hamburg. Er hat dort eine Truppe, die sein Repertoire tanzt. Neumeiers Tänzer könnten keinen „Schwanensee“ tanzen, doch das Marientheater kann ohne Schwierigkeiten Neumeiers Choreografie tanzen.“

Wonach man sich unschwer vorstellen kann, welchen Vorurteilen Neumeier bei zumindest einigen der Altvorderen des ehemaligen Kirow-Balletts begegnet ist.

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