„Soleá and the Winds“

Stuttgart, 30/11/1999

Irgendwann kriegt es einer der Männer mit: Er muss die Frau nur wenige Zentimeter anheben, und schon ist es vorbei mit dem Zapateado. Kein verführerisches Klappern der Schuhspitzen mehr, kein abweisendes Krachen der Hacken - es ist ganz einfach. Das Problem ist nur: Mit der Frau vor der Brust ist es auch mit seinen eigenen Bocksprüngen vorbei. Sie werden sich auf einen Kompromiss einigen müssen. In „Soleá and the Winds“ gelingt dieser Kompromiss, durchaus beabsichtigt, noch nicht ganz. Man wird sehen.

Das neueste Stück der schweizerischen Tanztruppe Flamencos en route markiert eine ungewöhnliche, ja radikale Entwicklung in ihrer nun schon fünfzehn Jahre währenden Geschichte. Erstmals überhaupt versucht eine Produktion nicht etwa nur eine behutsame Erneuerung oder Erweiterung des traditionellen Flamenco, sondern konfrontiert ihn direkt und ohne Umschweife mit dem modernen Tanz.

Brigitta Luisa Merki, die Leiterin der Compagnie, und der amerikanische Choreograf Colin Connor haben gemeinsam ein Stück für fünf Flamenco-Tänzerinnen und fünf zeitgenössische Tänzer geschaffen, das bei seiner Deutschland-Premiere im Stuttgarter Theaterhaus beim Publikum großen Eindruck machen konnte. Es beginnt mit den Tänzerinnen, die sich im Halbdunkel der Bühne sacht wie Schilf im Winde wiegen. Bald schleudern sich die Männer zwischen sie, vollführen wilde Rückwärtssprünge mit nach vorne gestrecktem Spielbein, schlittern sitzend, als huldigten sie Jiri Kylián.

Die Frauen scheinen sie zunächst nicht zu beachten. Aber das Klackern und Knattern ihrer Schuhe klingt wie eine Selbstbestätigung. Bald wird aus ihm ein rhythmisch leicht verworrenes Prasseln. Sie sind zutiefst verunsichert und wehren sich. Der Flamenco hat den modernen Tanz zur Kenntnis genommen. Während die Musik für Streichquintett, Fagott, Klavier und Perkussion von Antonio Robledo meistens getragen und volltönend aus den Lautsprechern zu hören ist, verwischen sich langsam die Kontraste. Die Männer berühren die Frauen, die das allmählich zu genießen scheinen, es kommt zu regelrechten Pas de deux, in deren Verlauf die Frauen selbst Hebungen gestatten, sich also von ihrem eigentlichen Element, dem Boden, lösen.

Schließlich lassen sie sich die Schuhe ausziehen, entledigen sich ihrer gar selbst. Weiter kann die Hingabe des Flamenco kaum gehen. Aber das ist nicht von Dauer. Bevor sich die Parteien sozusagen wieder auf ihr eigenes Terrain zurückziehen, deutlich verändert zwar, aber längst noch nicht transformiert, gibt es eine hinreissende Sequenz: Die Männer agieren auf dem von Herta Eppler-Joggi entworfenen Stahlgerüst im Hintergrund als Bauarbeiter und vollführen, den Mädchen nachpfeifend, mit ihren Werkzeugen einen höllischen, rhythmischen Radau (Jürg Fehr), zu dem die Damen zeigen, was eine Flamenco-Harke ist.

Es kommt zu einem großen, ausgelassenen, gemeinsamen Fest. Flamenco und zeitgenössischer Tanz haben offensichtlich nichts gemeinsam. Hier die gebündelte Leidenschaft des konzentrierten, erdgebundenen, strengen Formeln und Formen folgenden Flamencos, dort die bewusst alle traditionellen Regeln brechende, ästhetisch provozierende Wildheit moderner Choreografie - ob sie je zueinander finden können? Dass sie einander etwas zu geben haben, sich etwas zu Denken zu geben haben, das hat dieses Stück indes bewiesen.

Nun wirkt in diesem „Soleá“, das im Untertitel auch „Liebeslieder“ heißt, allerdings der Flamenco als der Überlegene. Ob das an seinem hochfahrenden, über die Jahrzehnte gereiften und deshalb vollkommenen Bewegungscharakter liegt, oder daran, das Colin Connor nicht gerade ein sehr einfallsreicher Choreograf ist, der mehr zitiert als erfindet und obendrein die Oberkörper seiner konditionsstarken, aber technisch nicht hochklassigen Tänzer beinahe völlig außer acht lässt, das wird sich wohl erst in den künftigen Produktionen zeigen. Der Anfang ist jedenfalls gemacht, und es ist ein höchst viel versprechender.

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