„Vertikal“ von Mourad Merzouki

„Vertikal“ von Mourad Merzouki

Fliegen ist nicht immer schöner

Mourad Merzoukis Compagnie Käfig mit „Vertikal“ bei den Ludwigshafener Festspielen

Zehn AusnahmetänzerInnen erobern die dritte Dimension und heben scheinbar mühelos vom Boden ab.

Ludwigshafen, 24/10/2019

Wenn man der Redewendung glaubt, geht nichts über das Fliegen. Aber der französische Choreograf Mourad Merzouki tritt mit seiner zehnköpfigen Compagnie Käfig den Beweis dafür an, dass es etwas noch Schöneres gibt: das Schweben nämlich, oder – anders ausgedrückt – der immer neue Beweis für die Überwindung der Schwerkraft. Mourad Merzouki ist ein Ausnahmechoreograf. Er hat mitgeholfen, den HipHop, in dem er seine eigenen tänzerischen Wurzeln hat, auf der Theaterbühne salonfähig zu machen. Für den Leiter des Choreografischen Zentrums von Créteil und Val-de-Marne ist das gleichberechtigte Zusammenspiel aktueller Kunstformen Programm.

Vor über 20 Jahren gründete er seine eigene Kompanie; seitdem betritt er mit schöner Regelmäßigkeit künstlerisches Neuland. Im Stück „Pixel“ war es die Einbindung von computergenerierten Bildern als selbstständige Partner in den Tanz – das verblüffende und vergnügliche Spiel mit Schein und Sein wurde 2018 bei der bislang leider letzten Tanzbiennale 2018 vom Publikum in der Hebelhalle bejubelt. Nanine Linning, damals als Tanzchefin in Heidelberg noch mit für das Biennale-Programm verantwortlich, hat als Kuratorin der Tansparte bei den diesjährigen Ludwigshafener Festspielen die Compagnie Käfig noch einmal in den Rhein-Neckar-Raum eingeladen.

Zehn AusnahmetänzerInnen erobern im neuen Stück „Vertikal“ die dritte Dimension. Fabrice Guillot, Leiter der Compagnie Retourament, hat durch die Einrichtung eines szenischen Flugraums den TänzerInnen das Schweben ermöglicht. Und Mourad Merzouki hat ausprobiert, was passiert, wenn seine HipHop TänzerInnen nicht mehr mit akrobatischem Feintuning der Erdanziehung verblüffende Schnippchen schlagen, sondern scheinbar mühelos vom Boden abheben. Dabei hat er sich wieder künstlerische Mitstreiter auf Augenhöhe gesucht: Filmmusik-Komponist Armand Amar lotet in seinem Soundtrack munter die ganze emotionale Bandbreite musikalischer Mittel aus: vom betörend schönen Gesang bis zu elektronischer Geräuschkulisse, von Streicherwohlklang bis zu hypnotisierenden minimalistischen Wiederholungsschleifen. Bühnenbildner Benjamin Lebreton hat die Tanzfläche mit beweglichen Türmen eingerahmt, die beim Spiel mit der Schwerkraft einen entscheidenden Gegenpart leisten; Lichtdesigner Yoann Tivoli taucht die Bühne überwiegend in spektakuläres Gold und setzt die Spannung der szenischen Geschichten gekonnt in Szene.

Hat man HipHopper je so sanft gesehen? Der schwerelos fließende Anfang – noch komplett am Boden – ist Programm. Denn in der gesamten Choreografie von „Vertikal“ geht es ja eben nicht um das Fliegen, sondern um das Abheben – nicht nur um das vom Boden Weg-, sondern auch um das wieder zum Boden Runterkommen. Die Schwerkraft wird nicht nur überwunden, sie wird regelrecht gefügig gemacht. Was passiert, wenn die eigene Kraft und die Widerstände ganz anders erfahren werden als gedacht – für den Einzelnen, für Paare, für die ganze Gruppe? Die Compagnie Käfig lotet die Frage spektakulär körperlich aus, und die ZuschauerInnen im Ludwigshafer Pfalzbau durften sich über Augenschmaus und Gehirnarbeit gleichermaßen freuen. Standing Ovations – was sonst?
 

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