Mit der Natur in Dialog treten

Johannes Odenthal im Gespräch über Koffi Kôkô und den Vodun

Volkmar Draeger traf den Autor von „Passagen. Der Tänzerchoreograph Koffi Kôkô und die westafrikanische Philosophie des Vodun“.

Berlin, 21/12/2018

Seit drei Dezennien sind sie einander so intensive wie respektvolle Gesprächspartner, der Autor, Kurator, Kulturkritiker Johannes Odenthal und der Tänzer, Choreograf, Vodun-Priester Koffi Kôkô. Der eine neugierig auf die Quellen, aus denen sich die künstlerische Arbeit des auch politisch engagierten Afrikaners speist und was sie mit seinem Priesterstatus zu tun hat; der andere neugierig auf die Denkweise der einstigen Kolonialmacht Europa, was sie in Afrika angerichtet hat und was davon bis in die Gegenwart nachwirkt. Nach 30 Jahren hat Johannes Odenthal es gewagt, Koffi Kôkô, der zwischen Paris und Benin pendelt, in seinem Geburtsort Ouidah zu besuchen, einem spirituellen Zentrum der Republik Benin, und sich dort selbst einer Initiation zu unterziehen.

Rund 40 Choreografien hat Koffi Kôkô inzwischen entwickelt und weltweit gezeigt, viele auf Einladung von Johannes Odenthal auch in Berlin. Aus zahlreichen Gesprächen der ungleichen, durch ihren Wissensdurst einander indes sich ähnelnden Persönlichkeiten, sowie aus Johannes Odenthals Reisenotizen entstand das Buch „Passagen. Der Tänzer Koffi Kôkô und die westafrikanische Philosophie des Vodun“. Es sucht neben seiner künstlerischen Arbeit auch Koffi Kôkôs Wirken in Vodun, Religion und naturbezogene Philosophie in einem zu ergründen. Johannes Odenthal hat zu diesem höchst komplexen Thema Fragen beantwortet.

Koffi Kôkô äußert teils harsche, wiewohl sehr berechtigte Zivilisationskritik an der westlichen Sphäre und verweist dabei immer wieder auf die Religion/Philosophie des Vodun. Kann Vodun die Welt retten?

Johannes Odenthal: Vodun ist nach europäischer Definition eine animistische Religion, eine Naturreligion. Während der letzten 20 Jahre ist er als Denkmodell sehr stark geworden, weil er einen behutsamen Umgang mit der Natur voraussetzt, ein exemplarisches Modell von Nachhaltigkeit praktiziert. Damit verbunden ist die Kritik einer Moderne, die mit gravierenden Folgen die Natur besinnungslos ausgebeutet hat. Die wieder aufflammende Tendenz zu Nationalstaaten übersieht, dass, wenn wir so weitermachen, die Erde nicht mehr unser Haus sein wird. Das kritisiert Koffi Kôkô; er will keine Fünf-Sterne-Hotels in Ouidah, fordert eine kollektive Verantwortung für die globalen Veränderungen ein, prangert die Verteilung von Ressourcen durch internationale Konzerne und korrupte Regierungen an. Dazu gibt es wenige Gegenbewegungen wie etwa in Südamerika, wo die Natur wieder einen Subjektstatus erhält und nicht mehr nur ausbeutbares Objekt ist. Dem stimme ich zu. Wenn alle die Natur schützen, mit ihr kommunizieren, ihre Heilkräfte nutzen, auch sozial vorsichtig und respektvoll mit dem Anderen umgehen, dann würden wir auch eine andere Welt erhalten. Das ist gegenwärtig utopisch, weil es keine politische Basis besitzt, hat aber auf spiritueller Ebene Relevanz. Koffis Meister etwa, ein ganz junger Mann, ist von einer überwältigenden Demut; er betet auch für den Frieden in unserem Teil der Erde. Wir können uns darüber amüsieren, aber wir können es ernst nehmen. Ich bin mir sicher, dass auch die geistigen Ansätze von Veränderung wirken. Für die Moderne haben wir das akzeptiert. Nehmen Sie das Bauhaus, das ohne diese geistige Dimension nicht denkbar ist. Mein Buch sehe ich als einen Aufruf dazu, mit allen Mitteln und all unseren mentalen Fähigkeiten zuzuhören und die Tür zu anderen Denkmodellen in der Welt zu öffnen. Dazu gehört auch der Animismus. Europa und Afrika haben eine gemeinsame Geschichte, obwohl wir immer im Trennenden denken. Mich hat die Auseinandersetzung mit dem Vodun als Philosophie stark beeindruckt und mein Denken verändert.

Beim Übergang von den Jägern und Sammlern zu Viehzüchtern und Ackerbauern ist den Ritualen ihre bindende Kraft langsam abhanden gekommen. Alltag, Religion und Philosophie separierten sich voneinander. Heute fehlt uns diese Einheit allen Seins. In der griechischen Antike war sie noch vorhanden. Pythias Weissagungen in Delphi, die Dionysien, aus denen das Theater hervorging – kann man sie mit dem Vodun vergleichen?

Johannes Odenthal: Die neolithische Revolution, deren Konsequenzen wir jetzt austragen, war schon noch hoch ritualisiert: in Ägypten, Uruk und andernorts. Mit der Verschriftlichung unserer Kultur begann auch ihre Verweltlichung, ihre Aufspaltung. Im Animismus sind die Menschen mit den Energien der Natur, des Universums verbunden, in Ritualen, in Tänzen, Gesängen und einer kenntnisreichen Praxis im Umgang mit den Pflanzen, Menschen und Tieren. Diese rituelle Praxis hat sich oral tradiert. Durch Verschriftlichung verliert sich die rituelle Praxis. Für mich ist, um einen Zeitsprung zu wagen, der zeitgenössische Tanz der Versuch, eine rituelle Praxis für unsere urbane Gesellschaft herzustellen. Auch das Barocktheater war rituelle Praxis im Sinn einer Verbindung zwischen Menschen und geistiger Erfahrung. Ebenso knüpft die Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts an diese Konstellationen an. Der Körper ist bei Fuller, Duncan, Laban oder Wigman Symbolträger einer Kommunikation mit dem Geistigen. Das führt auch bis zu Merce Cunningham oder William Forsythe, der nach eigener Aussage die Trance als wichtigen Aspekt seiner choreografischen Arbeit erforschte. Das bedeutet doch nur, dass die Tanzentwicklung die Grenzen der intellektuellen Kontrolle zu überwinden und die Tür zu einem anderen Raum zu öffnen versuchte.

Bei Pythia und Dionysos sind wir natürlich bei Animismus, aber die monotheistischen Religionen suchten ihn zu überwinden. Vodun ist nahe am Wissen des alten Ägypten, aus dem sich wiederum Griechenland gespeist hat. Das Orakel des Fâ im Vodun entspricht dem daoistischen Orakel des I Ging in China und den Orakeln in Rom und Athen. Eine Verschriftlichung wie in Griechenland existiert in Afrika nicht, das ist der Unterschied.

Vodun als Religion/Philosophie ist sehr komplex und für uns schwer verständlich. Kann man Vodun mit der Santeria in Kuba und der Trance der Derwische vergleichen?

Johannes Odenthal: Geschätzte 12 Millionen Sklaven sind von Afrika nach Amerika deportiert worden, viele schon auf der Überfahrt gestorben. Ouidah war einer der zentralen Umschlagplätze dafür. Candomblé und Santeria sind undenkbar ohne Vodun, Koffi hat das eingehend recherchiert. In den Tempeln des Candomblé findet man, wie übrigens auch in den katholischen Kirchen Südamerikas, christliche Heilige mit afrikanischen respektive indigenen Merkmalen, ein typischer Synkretismus. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Haïti der erste Aufstand gegen die Sklaverei stattfand, gleich nach der französischen Revolution. Diese Befreiung, die Selbstermächtigung der Sklaven, hat die Welt verändert. Vodun, auch Voodoo oder Voudou, wurde Staatsreligion. Der Westen konnte damit nicht umgehen, diffamierte den Vodun als schwarze Magie, als tierische Energie. Bis heute herrscht dieser von Hollywood geprägte Mythos vor.

Kommen wir auf Koffi zu sprechen. Für mich ist er nach all den Vorstellungen, die ich besucht habe, eine Person von Über-Format, die unerschütterlich in sich ruht, Gelassenheit, Sicherheit, Wahrheitswissen ausstrahlt. Europa ist derzeit ganz Frage, Koffi erscheint mir nur Antwort. Ist das so?

Johannes Odenthal: Für mich ist er zuallererst jemand, der Demut vor den universalen Mächten ausstrahlt: Der Mensch plant, das Leben entscheidet. Man hat die Welt nicht in der Hand. Mit dieser Haltung der Offenheit und Demut stellt er sich in den Dienst der Energien, die uns umgeben. Er spricht von Gottheiten, die für die Kräfte der Natur stehen. Wenn Koffi Kôkô tanzt, dann neutralisiert er sich, um die göttlichen Energien empfangen zu können. Als Subjekt ist er nur Teil eines machtvollen Gefüges.

Ein Ritual für die Bühne zu bearbeiten, in theatrale Formen und Bilder zu übersetzen und so das eigentlich Unsichtbare sichtbar zu machen – ist das kein Widerspruch?

Johannes Odenthal: Auf der Bühne findet ja kein Ritual statt wie auf dem Dorfplatz, in Klöstern oder Tempeln. Koffi Kôkô nutzt Aspekte des rituellen Wissens und bearbeitet sie wie etwa in seinem Stück „Ça“: In eine Fläche aus Kalkmehl schreibt er Zeichen ein, das Orakel Fâ entsteht; dann wirft er das Mehl in die Luft und tanzt das entstandene Zeichen. In „Passage“, wohl seinem Schlüsselwerk, steht ein Krug mit einem Licht, in dem sich das Göttliche manifestiert. Zwei solcher Krüge bilden übrigens in den Tempeln in Ouidah über die Jahre wachsende, inzwischen meterhohe Fetische als Ausdruck der göttlichen Energien.

Wie viel Ritual geht bei der Transformation für die Bühne verloren, und was gewinnt der Tanz dadurch?

Johannes Odenthal: Kein Ritual im Vodun ist ohne tänzerisches Moment denkbar. Es verdichten sich darin viel Wissen um die Energien und göttlichen Kräfte. Koffi will in einem westlichen Kontext davon erzählen. Die Bühne ist sein Ort, den er bewusst gewählt hat. Er praktiziert in seinen Auftritten kein Ritual, er abstrahiert die Möglichkeiten des Rituals für die Bühne, und das in einer zeitgenössischen Tanzsprache. Er bringt sich mit seiner ganz individuellen Technik ein, die viele Einflüsse aus seinen Pariser Erfahrungen einsaugt, von Jean Genet über irische Musik und Flamenco bis zu europäischer Philosophie.

Koffi Kôkô ist Priester, Tänzer, Choreograf, Freimaurer – wie geht das in einer Person zusammen? In welches Verhältnis treten da Ästhetik und Spiritualität? Ist er Dolmetscher des Vodun?

Johannes Odenthal: Die Babalayos, die Deuter des Orakels Fâ, sind ebenso eine Geheimgesellschaft wie die Freimaurer. Koffi ist seit vielen Jahren Babalayo, er hat in der Gemeinschaft des Vodun die Rolle eines Kardinals und ist auch als Freimaurer hoch initiiert. Die Freimaurer pflegen eine humanistische Gesinnung, haben sich zum Beispiel für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt, waren entscheidende Impulsgeber für die Aufklärung und die Revolution. Durch die katholische Kirche wurden sie verfolgt. Beide, Babalayos und Freimaurer, nutzen ähnliche Symbole. Außerdem: als Christ kann man ja auch in ein buddhistisches Kloster gehen.

Was den zweiten Teil der Frage betrifft: Für sein spirituelles Anliegen hat Koffi eine ästhetische Form, eine zeitgenössische Sprache voller spiritueller Bezüge auf die Tradition des Vodun gefunden. Tanz sieht er als Gebet, als rituelle Zelebration, als Kommunikation mit den Göttern. Ihn deshalb als Dolmetscher des Vodun zu bezeichnen, der in die Fremde ging, um seine Ideen zu zeigen, scheint mir durchaus treffend.

Weshalb haben Sie sich dieser Initiation unterzogen – und mit welchen Folgen für Ihr Leben?

Johannes Odenthal: Nach 30 Jahren Beschäftigung mit diesem Komplex fand ich es an der Zeit, diesen Schritt zu tun, voller Respekt und ohne exotische Sinnsuche. Koffi kam in mein ‚System‘, unterrichtete als Gastprofessor an der Freien Universität. Es war notwendig für mich, auch in seinen Wissenshorizont einzutreten, in ein jahrtausendealtes Erfahrungswissen. Durch die Initiation lernte ich eine mir bis dahin nicht bekannte Energie, Kraft, Vitalität kennen, meine Ahnen waren präsent. Das öffnet eine bestimmte Intensität auch als Kraft für die Gestaltung der Gegenwart. Und es lehrt Bescheidenheit, denn jeder Mensch ist mit dem Universum verbunden. Wir sollten diese Tür öffnen. Es geht letztlich um Liebe zu den Menschen wie zur Natur und darum, in Dialog zu treten.

 

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