„Der blonde Eckbert“ von Paolo Fossa

„Der blonde Eckbert“ von Paolo Fossa

Macht der Gefühle

Tanz inspiriert von Ludwig Tiecks „Der blonde Eckbert“

Schon mal vom „blonden Eckbert“ gehört? Die Wissenslücke kann derzeit am Stadttheater Gießen geschlossen werden. Da die Tanzcompagnie endlich eine feste Dramaturgin hat, ist die Themenauswahl dieser Spielzeit von Literatur inspiriert.

Gießen, 19/12/2016

Schon mal vom „blonden Eckbert“ gehört? Nicht. Aber von Ludwig Tieck, einem Schriftsteller aus der Zeit der Romantik? Die Wissenslücke kann derzeit am Stadttheater geschlossen werden. Da die Tanzcompagnie Gießen mit Maite Beisser endlich eine feste Dramaturgin hat, ist die Themenauswahl dieser Spielzeit von Literatur inspiriert. Konnte bei der ersten Premiere im großen Haus mit Edgar Alan Poes „Untergang des Hauses Usher“ noch Kenntnis beim Publikum vorausgesetzt werden, bedarf die erste Studiobühnenpremiere „Der blonde Eckbert“ einiger Erklärung. Literaturwissenschaftlich lautet die so: die 1797 veröffentliche Novelle gilt als der Beginn des deutschen Kunstmärchens, das sind Fantasiegeschichten, die oft ohne Happy End auskommen. Wie alles Kunstwollen der Romantik sind sie gegen die Aufklärung gerichtet, gegen die alleinige Vorherrschaft der Vernunft. Anders ausgedrückt: sie erzählen von der Verstrickung in Schuld und von der Macht der Gefühle. Was könnte derzeit aktueller sein?

Zentrale Momente sind Verwirrung und Angst, symbolisiert im Herumirren des Einzelnen zwischen Tag und Traum, zwischen Realität und Fantasiewelt, oder wie Tieck es nennt „in Waldeinsamkeit“. Erzählt wird von dem Ehepaar Bertha und Eckbert, das relativ isoliert lebt, nur einen gemeinsamen Freund namens Walther hat. Bei einem gemeinsamen Essen erzählt Berta ihre ungewöhnliche Lebensgeschichte, ein intimer Moment, der bei Eckbert Zweifel und Misstrauen gegenüber Walther zur Folge hat und bei Bertha zu Krankheit und Tod führt. Sie war als Achtjährige aus ihrem Elternhaus in die „Waldeinsamkeit“ zu einer alten Frau geflüchtet, lebte dort glücklich mit deren Hund und Vogel. Als 14-Jährige flieht sie zurück in die Gesellschaft, nimmt den Vogel und Edelsteine mit, stiehlt also und tötet den Vogel später. Eckbert irrt in Trauer umher, tötet einen weiteren Freund, endet schließlich im Wahn und stirbt. Nichts ist so wie es scheint

Schwieriger Stoff also für den italienischen Gastchoreografen Paolo Fossa, der dem Gießener Publikum bereits bekannt ist, seit er vor zwei Jahren mit der TCG den witzigen Tanzkrimi „Der Tag, an dem der Goldfisch starb“ erarbeitete und seitdem zum Team der TCG-Trainingsleiter gehört. Fossa folgt durchaus der Erzählung, hat dafür sieben Sequenzen herausdestilliert, auch sind die Protagonisten über Kostüme und Ausdruck kenntlich gemacht. Doch die Grenzen verschwimmen. Bertha und Eckbert gibt es doppelt, Walter wechselt mehrfach die Rollen. Die Musikauswahl geht quer durch alle Genres, sie evoziert intensive Gefühlsmomente von Wohlbefinden bis zu Angst vorm Alleinsein, am Ende gar herausgeschrieene Verzweiflung.

Die sechs Tänzer sind permanent auf der Bühne, sind mal im HIntergrund stillgestellt, agieren in slow motion, zeigen immer die für Fossas Stil typischen geschmeidig-weichen Bewegungen. In Gruppenszenen wird das Ausschließen von Einzelgängern verdeutlicht. Breiten Raum nimmt eine Tischgesellschaft ein, die zu barocker Tafelmusik mit weißen Servietten ihre Rituale zelebriert. Und immer gibt es jemanden, der am Rand steht, sich nur mühsam aufrecht hält und kurz vor dem körperlichen Zusammenbruch steht; Magdalena Stoyanova agiert mit starkem Ausdruck und hoher Präsenz. Mamiko Sakurai als biegsame Bertha turtelt mit Eckbert (Yusuke Inoue), diskutiert mit ihrem Alter Ego (Skip Willcox), oder versucht aus der Waldeinsamkeit einzubrechen, was eindrucksvoll in einem lichterfüllten Türrahmen dargestellt wird, eine geradezu surreale Szene. Die alte Frau aus dem Märchen ist in dieser Choreografie keine Hexe, sondern ein strenger Priester, souverän getanzt von Douglas Evangelista.

In den Traumsequenzen kommt das Bühnenbild (Friederike Schmidt-Colinet ) zum Einsatz: fünf unterschiedliche, schiefwinklige Rahmen werden geschoben, gekippt und gedreht, spielerisch durchbrochen und erklettert, sind mal ein Kasperletheater für Kinder, mal ein Gefängnis der Seele. Clara Thierry gibt einen bizarren roten Paradiesvogel und Marcel Casablanca Martínez den flink wuselnden, gelb gewandeten Hund. Hier leuchten das einzige Mal kräftige Farben aus dem sonstigen Schwarzweiß, beides über raffinierte Wandelkostüme (Kathi Sendfeld) ermöglicht. Und dann rattert da noch ein alter Filmvorführer, flackern auf der Bühnenrückwand Stummfilmszenen.

Das ist kein Tanzstück zum Wohlfühlen, aber eines mit nachhaltiger Wirkung, auch dank der Nähe zum Publikum. Durch das üppige visuelle Angebot, das ohne Pause auf die Zuschauer eintrommelt, unterstützt durch suggestive Musik und Lichtregie hinterlässt das eindringliche Spiel der sechs Akteure atemlose Spannung. Oder doch Verspannung? Selbst durchleben möchte man das jedenfalls nicht, aber dafür ist Theater ja da, für symbolisches Handeln.
 

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