„...oder nirgends“ von Andrew Skeels
„...oder nirgends“ von Andrew Skeels

„Think Big“

Drei Choreografen der freien Szene beim Tanztheater International

Für „Think Big“ spendiert das Festival Tanztheater International in Kooperation mit dem Ballett der Staatsoper Hannover drei Choreografen der freien Szene eine zehnköpfige Kompanie, damit sie sich mal mit großer Gruppe ausprobieren können. Eine schöne Chance.

Hannover, 06/09/2015

Für „Think Big“ spendiert das Festival Tanztheater International in Kooperation mit dem Ballett der Staatsoper Hannover drei Choreografen der freien Szene eine zehnköpfige Kompanie, damit sie sich mal mit großer Gruppe ausprobieren können. Eine schöne Chance.

Mélanie Lomoff, mit Erfahrungen an der Pariser Oper, Montalvo-Hervieu und den Ballets C de la B, schickt zu fein perlender Schubert-Musik zwei Tänzer vor, die Nähe suchen. Mal legt er seinen Kopf in ihre Hand, mal strecken sie sitzend Fuß und Fuß nacheinander aus. „Do you really think, it’s gonna come by itself?“ nennt Lomoff ihr Stück reichlich umständlich. „Ob die Liebe hinfällt“ könnte man‘s salopp übersetzen. Unser Paar jedenfalls geht erstmal in der langsam einschreitenden Gruppe auf, die sich zersprengt, durcheinanderläuft, die Karten werden neu gemischt. Zwei Paare nähern sich nun unter den Augen der Gruppe, während Schuberts Gretchen-Lied „Meine Ruh‘ ist hin“ erklingt. Dabei werden etwa die Frauen um die Hüfte des Mannes gelegt. Doch die Innigkeit wird stets wieder in die Gruppe aufgesogen oder verweht, von selbst ist Liebe nicht vergönnt, man muss sie der Gesellschaft offenbar abringen. Am Ende aber bleibt das Anfangspaar übrig und umarmt sich so, dass es ein Herz bildet. Herzig.

Auch der Kanadier Andrew Skeels mit Tanzerfahrungen von Kylian bis Goecke wählt klassische Musik für sein Stück „...oder nirgends“. Er setzt Beethovens Klaviertrio in so flüssiger Bewegung um, dass man meint, es wär‘ von Uwe Scholz. Im Wortsinn wird am Anfang ein Tänzer in die Musik geworfen, hier in die Arme der Gruppe, und noch später kippen einzelne Tänzer immer wieder rücklings um, werden aufgefangen, weitergeleitet wie die Motive und Stimmen der Partitur. Und das mal mit Überschlag über andere Rücken hinweg, mal in artistischen Bodenschrauben, dass es zuweil an Hip-Hop-Figuren in lediglich geschmeidigerer Ausführung erinnert. Auch hier steht zuletzt nochmal die Figur des Beginns: Der gleiche Wurf in die Gruppe beendet das Stück. Eine herrlich musikalische Arbeit, aber merkwürdig frei von Konflikt, Entwicklung, weltlichen Bezügen.

David Blázquez, Tänzer in der hannoverschen Kompanie, zeigt in „Varh“ ein Stück über Fremdkörper und körperliche Verdrängung. Erst in Reinform: Nackt mit dem Rücken zum Zuschauer bilden die Tänzer eine Gruppe, die mit erhobenen Händen gleichförmig mäandert, bis einer rausgeschubst wird aus dem Gefüge. Die folgenden Szenen variieren das Thema unter bunter Kleidung und fröhlicher Musik. Das erinnert mal an Rocker-Posing mit Mikro, dem sich jemand ins Bild stellt, mal an pogohaftes Antanzen, das auch immer jemand von der Fläche drängt. Auf dem Boden wird’s bedrohlicher, dann wieder laufen die Tänzer wie aufgezogen, versucht eine in ruhiger Selbsterkundung nach dem Ausziehen der Kleidung wieder selbst zu sein, wird die ganze Kompanie am Ende zu einer wabernden Anemone – wie ein anderes Bild für Kafkas Entfremdungskäfer aus „Metamorphose“.

Blázquez liefert damit sicher die verstörendere, am ehesten jungendstrotzende Arbeit des Abends. Alle Choreografen haben die Gruppe und die große Bühne gekonnt bedient, aber sie blieben auch recht konventionell in ihren Mitteln wie in ihren Aussagen. Da wünschte man sich die junge Szene doch etwas frecher.

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