„Deep Field“ von Martin Schläpfer. Tanz: Ensemble

„Deep Field“ von Martin Schläpfer. Tanz: Ensemble

Ein ganz neuer Bühnenkosmos

Martin Schläpfers „Deep Field“ in Düsseldorf

Von überall her wispert, schnalzt, gurrt, juchzt, singt und summt es. Mit archaischer Größe taucht dieses Theaterspektakel die Menschheitsgeschichte in fahles Licht, Raumklänge und Bewegung.

Düsseldorf, 24/05/2014

Von überall her wispert, schnalzt, gurrt, juchzt, singt und summt es. Wie aus allen Poren tönt es vom Orchestergraben bis zur letzten Galerie in Düsseldorfs Opernhaus bei der Uraufführung von Adriana Hölszkys Auftragskomposition der zehn „Klangbelichtungen einer Metamorphose“ und Martin Schläpfers Choreografie „Deep Field“. Kostüme und die „Medien-Licht-Skulptur“ entwarf die Stuttgarter Bühnenkünstlerin Rosalie.

Das All und die Erde. Ein schwarzes Netz hängt hinten herunter wie ein halb aufgezogener Vorhang. Im Verlauf der nächsten 75 Minuten wird sich dahinter fahles Blau zeigen, später tiefrote Keile, Grün wohl auch, helle Säume, schattige Spiegelungen - auf dem Bühnenboden scharf umrissene Lichtkreise.

Allmählich erwacht die Menschheit zum Sein. In einem tief berührenden Solo tastet sich Yuko Kato - ganz sie selbst und doch wie aus ferner Zeit - ins Leben. Barfuß, in knappem schwarzem Gewand kullert und hopst sie, spreizt Beine und Finger, reibt sich verwundert die Augen, streicht über die Wangen mit den ganzen Unterarmen, ballt die Hände zu Fäusten, weil sie noch so wenig mit sich anzufangen wissen. Mitten durch den asymmetrischen Raum mit drei Kulissengängen links und vier rechts rennt eine Horde Nackter. Von den Seiten lugen Mannen mit langen Stangen. Aus Urzeiten im Irgendwo wird unsere Welt - menschliches Leben wächst voll Zärtlichkeit, Zorn, jugendlichem Übermut, Einsamkeit und Sterben.

Immer wieder formiert Schläpfer seine grandiose, fast 50-köpfige Kompanie neu, ist schier unerschöpflich erfindungsreich bis hin zum aufreizenden „Schlagzeug“-Spitzenschuh. Da knallt die Hacke hart auf den Boden oder die ganze Sohle. Wie Dolche attackieren die Spitzen - bis Doris Becker sie nach getaner Arbeit von den Füßen zieht und, die Folterdinger in den Händen schlenkernd, barfuß davonzieht. Im schnellen Wechsel oder Zusammenspiel treffen sich Gruppe und Solisten: zur schieren Theatralik geboren Marlúcia do Amaral, ein kontemplativer Martin Chaix (an Pina Bauschs trauernden Orpheus erinnernd), eine winzig und verstört wirkende Ann-Kathrin Adam, Paul Calderone - in all seiner Jugend doch schon mit einem Hauch der Aura eines Nurejew, lustvoll tänzerisch die sportliche Camille Andriot in leuchtendem Ultramarin, die elegante Christine Jaroszewski mit Alexandre Simões in einem der zahllosen technisch frappierenden Duette, Marcos Menha bibbernd, wie von unsichtbarer Hand grausam geschüttelt und von der Partnerin verlassen und verletzt, zieht wie spastisch gelähmt mühevoll davon.

Alle müsste man eigentlich nennen aus diesem rheinischen Kosmos zeitgenössischer Tanzkunst, die Schläpfer zum Funkeln bringt wie die Sterne am Firmament. Hölszkys Klangapparat mit Zuspielungen, dem sehr apart besetzten Orchester unter Wen-Pin Chien, dem Chor des WDR, einstudiert von Denis Comtet, steht dem Ideenreichtum und der theatralischen Leuchtkraft Schläpfers in nichts nach.

Es ist ein so gewaltiges Theaterereignis, wie man's im deutschen Tanz vielleicht noch nie erlebt hat. Mehr als 200 Künstler, Techniker und Handwerker sind an der Uraufführung beteiligt. Atemlose Stille herrschte im Zuschauerraum. Minutenlanger Applaus voll Anerkennung - und vielleicht auch ein bisschen überwältigter Erschöpfung - rauschte zum Schluss durch das Haus.

Mit archaischer Größe taucht dieses Theaterspektakel die Menschheitsgeschichte in fahles Licht, Raumklänge und Bewegung. Mag auch das Universum dem Programm b.20 den Titel „Deep Field“ (Ausschnitt des Himmels, gesehen durch das Hubble-Weltraumteleskop) verliehen haben, so ist doch ganz irdische, üppige Kunst unserer Zeit daraus entstanden. Künstlerischer Anspruch und Aufwand sind mit epochalen Bühnenwerken wie Hofmannsthal/Reinhardts „Jedermann“ oder Wagners „Ring des Nibelungen“ vergleichbar. Zeitlich sind diese zehn „Phasen“ damit verglichen ein „Kammerwerkchen“. Ob es sich als Meisterwerk erweist, das überdauern kann, wird die Zeit zeigen.
 

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