Freie Platzwahl oder: Wie manipuliere ich richtig?

Tanz! Heilbronn: Post Theater mit „Express Fight Club. Version VI“

Im Hinausgehen rätselt das Publikum, wo es diese Veranstaltung zwischen Kindergeburtstag, Liturgie und Verhör ansiedeln soll. Die Chance, solche Fragen zu diskutieren, wurde vergeben,

Heilbronn, 11/05/2013

Freie Platzwahl steht auf der Eintrittskarte. Das gilt in den Kammerspielen nur solange, bis Max Schumacher, Leiter des Post Theaters mitteilt: „Hier haben Sie keinen Namen, hier haben Sie eine Nummer“. Jemand ist das nicht geheuer: „Kann man auch keine nehmen?“ Freundlich aber bestimmt antwortet der junge Mann „Nein!“ Auch tauschen dürfe man die Nummern nicht, das alles habe einen tieferen Sinn. Muss wohl, schließlich haben die 30 Besucherinnen (davon vier Männer) 15 Euro fürs Ticket bezahlt.

Wer nach der förmlichen Einleitung des Post-Theater-Chefs – sein Glencheck-Anzug gibt ihm einen gewissen Gentleman-Look à la Sherlock Holmes – noch nicht genau weiß, worum es im „Express Fight Club“ geht, gibt sich mit dem Begriff „tieferer Sinn“ vorerst zufrieden.

Zum Schweigen verpflichtet, folgt die Gruppe (wahlweise mit Überschuhen oder barfuß) hinter den Vorhang, wo laut Schumacher, das eigentliche Theater beginnt. Im Raum mit drei Projektionsebenen, dürfen sich die Teilnehmerinnen auf Anweisung, und entlang ihrer Nummer, die auf dem Planquadrat am Boden aufleuchtet, bewegen. Eine Wand zeigt das Geschehen aus der Vogelperspektive, an der anderen Wand erscheint der Agent mit Führungsqualität Alexander Schröder.

„Stellen Sie sich vor Sie sind ein hohes Haus, ein Wachturm“, mit harmlosen Imaginationsübungen beginnt die sogenannte Choreografie. Der Schauspieler verschärft die Aufgaben: „Seien Sie gewalttätig, kämpfen Sie!“, und fordert auf: „Sprechen Sie mir nach: Wir haben alle etwas zu verkaufen, unseren Geist, unseren Körper, unsere Zeit!“ Kein Widerspruch!? Nachdem die Nummer 15 einen Wut-Tanz getanzt und die Nummern 16 und 17 diesen, mit dem Auftrag „Leidenschaftlicher!“ nachgetanzt haben, verwandelt sich der Coach langsam zum Cop: „Sind Sie damit zufrieden, wie Sie Ihren Unterhalt verdienen? Werden Sie sich in den kommenden drei Jahren grundsätzlich verändern? Können Sie ein Führer sein?“

Obwohl die Autorität nur fiktional ist, tun alle, wie geheißen, verbeugen sich voreinander, zünden Feuerzeuge an und warten bis die Flamme erlischt. Feiert das Mitmachtheater der 60er und 70er Jahre fröhliche Urständ? Sind derlei sozialpsychologische Versuchsanordnungen mit dem Etikett „Multimediale Performance über eine subversive Vereinigung“ (so der Untertitel) Exerzitien in angewandter Fremdbestimmung? Ist das Theater zum Übungsplatz für Geheimdienstmethoden verkommen?

Im Hinausgehen rätselt das Publikum, wo es diese Veranstaltung zwischen Kindergeburtstag, Liturgie und Verhör ansiedeln soll. Die Chance, solche Fragen zu diskutieren, wurde vergeben – der Drink wartet. Idee und Konzept zum „Express Fight Club“ stammen von Hiroko Tanahashi. Die Japanerin aus Chiba hat den Kölner Max Schumacher in New York kennen gelernt, gemeinsam haben sie 1999 das Post Theater gegründet. Seit 2002 mit Sitz in Berlin und Postadressen in Stuttgart, Tokio und New York, versteht sich das Duo als interdisziplinäre und internationale Performance-Company. Über 40 Mal wurde die 40minütige Performance durchgezogen, so Schumacher, der sagt, dass sich unter den circa 1300 Teilnehmern nur vier oder fünf Personen widersetzt hätten, was ihn überrascht habe. Das seien übrigens immer Choreografen-Kollegen gewesen.

Hört, hört, der Tanz als letzte Bastion des gesellschaftlichen Widerstands; der muss doch irgendwie zu knacken sein? Im nächsten Projekt, geplant Ende des Jahres in der Stuttgarter Rampe, wird es eine verschärfte Version, voraussichtlich mit dem Seriennamen „Space Monkeys“ geben. Da soll das berühmt berüchtigte Milgram-Experiment (1961) thematisiert werden. Milgram ist übrigens kein Milchprodukt light, sondern ziemlich schwere Kost des US-amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram. Er selbst kommentiert die Ergebnisse seines Experiments im Harper's Magazine 1974 so:

„Die rechtlichen und philosophischen Aspekte von Gehorsam sind von enormer Bedeutung, sie sagen aber sehr wenig über das Verhalten der meisten Menschen in konkreten Situationen aus. Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.“

Bevor die Performance-Fraktion mit ihren subversiven Spielchen den Tanz völlig lahm legt, würde ich mal sagen: Mehr streitbare Tänzer, widerständige Choreografen und investigative Recherche braucht das Land. Oder wie tief müssen Tanzschaffende fallen, um den „tieferen Sinn“ zu erfassen?
 

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