Kolumbianische Provokationen
Die Tanzszene in Kolumbien formiert sich neu, die Politik unterstützt sie
Provokationen
Die Mangostinos werden in einem großen Sack serviert, zwei Frauen verteilen sie an die Gäste. Während so manche Europäer*innen nicht wissen, wie mit dieser braunschaligen Majestät des ohnehin reichen kolumbianischen Fruchtsortiments umzugehen ist, drehen die kolumbianischen Konferenzgäste kurzerhand mit beiden Händen oben und unten an dem faustförmigen Körper und kommen so an den weißen, süßlich wohlschmeckenden Inhalt im Inneren. Das Servieren der Mangostinos ist eine „Provokation“ der kolumbianischen Tanzcompany Trópico Intenso. In ihren Workshops denken sie immer auch das kulinarische Erlebnis als gleichwertige Erfahrung mit. Ihre tias, die Tanten, die für das Catering zuständig sind, sind entsprechend gleichwertige Mitglieder des Kollektivs. Gleichzeitig mit der Mangostino-Provokation verliest die Gruppe ein Gedicht-Manifest über ihre Majestät, die Mangostino. Darin heißt es zum Schluss: „Bevor wir die Münder für den Diskurs öffnen, bieten wir Ihnen diese Provokation an: Ihre Majestät, die Mangostino. Denn wir kamen nicht um nur zu illustrieren, sondern, um zu schälen. Und daran zu erinnern, dass der Tanz, genau wie die Frucht, im Territorium geboren wird und verfault, wenn er davon getrennt wird.“
Das Nachhaltigkeitsforum in Bogotá ist Teil des zweiwöchigen Projekts „Danza en Construcción“ zur Vernetzung des kolumbianischen Tanzes Mitte Juli 2024. Eingeladen haben die europäischen Botschaften und Kulturinstitute unter der Federführung der französischen Botschaft, die im EUNIC zusammengeschlossen sind. Zehn Choreografinnen und Choreografen aus Europa, viele von ihnen mit mehreren Staatsbürgerschaften und daher in ihrer Arbeit bereits interkulturell bis hybrid ausgerichtet, treffen auf fünf kolumbianische Kolleg*innen um sich zwei Wochen lang intensiv auszutauschen. Und das nicht nur am Tisch, sondern konkret künstlerisch in den (exzellenten) Probenräumen der katholischen Privatuniversität Javeriana. Zunächst arbeiteten die Ausgewählten in sogenannten clínicas in Tandems zusammen, in der zweiten Woche leiten sie alleine Workshops mit Tänzer*innen aus Kolumbien, was in eine große Abschlusspräsentation im Centro Nacional de las Artes Delia Zapata Olivella in Bogotá mündet. Insgesamt sind 350 Künstler*innen an den Präsentationen beteiligt, und nicht wenige der kolumbianischen Tänzer*innen und Choreograf*innen schlüpfen gleich in mehrere Workshops, um möglichst viele Erfahrungen zu sammeln.
Die Tanzministerin hat einen Plan
Die Eröffnung macht die Kulturministerin Yannai Kadamani Fonrodona, selbst ausgebildete Tänzerin. Modisch gekleidet mit wallenden Haaren wirbt sie für die Ausweitung des Tanzes in Kolumbien, seine Anerkennung, seine Professionaliserung und den Aufbau eines Tourneenetzes. Denn sie hat einen Plan, den Nationalplan für Kultur 2024-34. „Kultur zum Schützen der Diversität, des Lebens, des Territoriums, des Friedens“ lauten die großen kulturellen Leitlinien. Ein weites Feld, gerade für den Tanz. Der reicht in seiner kolumbianischen Ausprägung von indigenen und folkloristischen Traditionen, über populäre Formen wie Salsa, Merengue und Tango, über Ballett und zeitgenössischen Tanz bis hin zu Urban-Dance. Und alle wollen und sollen mitbedacht werden. Verteilungskonflikte sind da vorprogrammiert. Die Regierung betritt zudem Neuland, weil mit dem Präsidenten Gustavo Pedro erstmalig ein explizit linker Politiker, der einst sogar der urbanen Guerillabewegung M-19 angehört hat, die Staatsgeschäfte leitet. Palacios ist nicht alleine gekommen, drei Mitarbeiterinnen erläutern im Anschluss verschiedene Aspekte des Plans. Angestrebt wird vor allem eine starke Beteiligung des privaten Sektors in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften. Die Kulturpolitik soll dezentralisiert werden, um regional besser wirksam zu werden. Die Verortung in der Region, dem Territorium, sei wichtig und: „Der Körper ist das erste Territorium.“
„Der Traum wäre vom Tanz leben zu können“
Die Tanzschaffenden lauschen konzentriert, aber reserviert. Alle kennen zu sehr die kolumbianische Wirklichkeit, die Planungssicherheit und Spielmöglichkeiten vermissen lässt, aber die sich trotzdem durchbeißen. Da ist etwa Diego Rivera von der bereits erwähnten Gruppe Trópico Intenso, die seit acht Jahren 13-tägige Tanzworkshops auf dem Land anbietet. In Camps wird zusammen getanzt, gekocht und gefeiert. In den Jahren hatten sie Besucher*innen aus 21 Ländern. Das nächste ist für Januar 2026 geplant. Zusammen mit ein paar Kolleg*innen seiner Gruppe Teatro Occidente betreibt Rivera zudem das kleine Off-Theater El Espacio mit angeschlossener Bar. Es existiert seit 10 Jahren, wurde mehrfach ausgezeichnet und wird von der Stadt Bogotá gefördert. Es zeigt größere und kleinere Theaterproduktionen und versteht sich als Raum für experimentelles Theater.
Ein eigenes unabhängiges Festival hat das Kollektiv La Manada auf die Beine gestellt: das Festival Movida Sur. Es ist seit sieben Jahren am Start und hat auch schon mit dem Tanzfestival in Valencia kollaboriert. In diesem Jahr traten beim Festival 106 Künstler*innen vor 3200 Besucher*innen auf. Ein weiteres Kollektiv aus Bogotá ist Impromptvs, das sich als transdisziplinäre Gruppe für Körper in Bewegung versteht. Sie arbeitet mit Objekten im öffentlichen Raum. Bei der Konferenz berichten alle drei von prekären Arbeitsbedingungen, die alle einen. Das beginnt bei unzureichenden Fördermodellen und endet mit den schwierigen Aufführungsmodalitäten, wenn manche Produktion nur ein oder zwei Mal gezeigt werden kann. „Der Traum ist vom Tanz leben zu können“, formulierte es eine Teilnehmerin.
Etwas besser steht es um die drei großen Tanzfestivals in Bogotá, Medellín und Calí (als Biennale). Sie organisieren nicht nur internationalen Bühnentanz, sondern setzen ganz stark auf partizipative Projekte, wobei Calí hier seine Rolle als Salsa-Hauptstadt ausspielt, während in Medellín eher Tango stark ist. Zwar verstehen sich alle Festivals als international, aber die Rückbindung an die regionalen und lokalen Kulturen steht im Fokus.
Dreh- und Angelpunkt der kulturellen Identität: Das Territorium
Das Territorium ist eines der Themen, das immer wieder auftaucht, ob in der Start-Provokation, den politischen Zielen oder wenn die Tanzschaffenden über ihre Arbeit sprechen. Während der europäisch-amerikanische zeitgenössische Tanz einen entwurzelten universalen Tanzanspruch formuliert, bezieht der kolumbianische Tanzdiskurs eine Art Gegenposition. Er fokussiert auf die regionale Verwurzelung. Das lässt sich politisch als Gegenerzählung zur puren Kunst des globalen Norden verstehen. So verkündet die Gruppe La Manada kämpferisch und selbstbewusst: „Nuestro Norte es el Sur.“ Übersetzt (mit Verlust des Wortspiels) wäre dies „Unser Kompass zeigt nach Süden.“
Auf der Suche nach eigenen Formen, Themen und dem eigenen Ausdruck ist der Rückgriff auf markante Formen der regionalen Traditionen ein wichtiger Baustein. Zum einen für die Identität der Tanzenden selbst, aber eben auch um in Verbindung mit dem eigenen Publikum zu bleiben. Eine formale Tanzausbildung, wie sie in Europa (nahezu kostenfrei) zu bekommen ist, ist hier schwierig. Stattdessen sind informelle Strukturen ausschlaggebend, zumal auch viele Tanzkünstler*innen über solche Lehrtätigkeiten in Tanzschulen einen nicht unwesentlichen Teil ihres Lebensunterhaltes verdienen.
Diese Verankerung im Territorium führt allerdings zu einem Paradox. Der territoriale Fokus widerspricht ja der zugleich gewünschten Teilnahme und Teilhabe an den internationalen Tanzfestivals, will man nicht auf einen reinen Exotismus setzen. Nötig wäre daher, so der Konsens der Diskussionen, zunächst nationale Tourmöglichkeiten auszubauen und zugleich eine stärkere Vernetzung mit anderen Netzwerken in Süd- und Mittelamerika anzustreben. Es gehe darum, eine eigene Identität im globalen Süden zu entwickeln. Dann könne man selbstbewusst und auf Augenhöhe mit den Kolleg*innen im globalen Norden in partnerschaftliche Beziehungen treten.
Zu erzählen haben die Tanzschaffenden in Kolumbien jede Menge. Das Land ist reich an politischen und gesellschaftlichen Widersprüchen, bietet durch seine Multikulturalität jede Menge spannende Ansätze, die dem mitunter aseptischen europäischen Kunsttanz durchaus etwas entgegensetzen können. „Wir wollen unsere Wunden nicht verdecken, wir wollen unsere Wunden behandeln, durch Tanz", sagt eine Teilnehmerin. Einige aber haben auch genug von diesen Bildern der Gewalt, mit denen Kolumbien ja – nicht zu unrecht – immer in Verbindung gebracht wird, und setzen auf das universalste Gefühl von allen: „Lasst uns von der Liebe erzählen!“
An die Podien schließen eher informelle runde Tische an. Die Diskussionsthemen reichen von Nachhaltigkeit und dem Austausch in Kolumbien, über Professionalisierung bis hin zur Bildung eines Verbandes, um der Politik einen Ansprechpartner zu bieten. Das T-Shirt „Lasst uns eine Gewerkschaft gründen“, das Ana Contreras vom Collectivo Impromptvs auf dem Podium trägt, spricht offenbar vielen aus der Seele.
Die Erben von Delia Zapata Olivella
Zum großen Finale gibt es dann endlich Tanz: die 15 Workshops präsentieren ihre Arbeiten im Centro Nacional de las Artes Delia Zapata Olivella. Zapata Olivella war Bildhauerin und kolumbianische Tanzpionierin. In den 1950er Jahren machte sie mit ihrer eigenen Company die kolumbianischen Tänze auch im Ausland bekannt. In Bogotá bekam sie 1976 einen Lehrstuhl für Tanzwissenschaft. Auf ihren Spuren erforscht die Company Palimpsesto aus Bogotá in einem Forschungsprojekt die Biografie der Künstlerin. Das Zentrum verfügt über einen der modernsten Theatersäle des Kontinents. Dort präsentiert unter anderem Dianea Marcela eine starke Bildreihe, ebenso wie Eduard Mar, der fast schon einen Tanzabend kreiert hat. Ein weiterer Höhepunkt ist die Präsentation von Ofelia Omoyelw Balogun. Sie arbeitete für ihre ritualhafte Nummer mit einem Perkussionisten zusammen. Technisch beeindruckend auch der Abschluss des spanischen Choreografen Daniel Horacio, der seine Tänzer*innen in flottierender Synchronität die dunkle Bühne bespielen lässt.
Draußen gibt es drei Urban-Nummern zu sehen, die zwischen großem Fest und kleinen Geschichten bewegende Momente erschaffen. In einem zweiten Saal finden bei Tageslicht vor allem kommunikative, gemeinschaftsbildende Formate statt. Beachtlich, dass einige der Tänzer*innen in mehreren Präsentationen zu sehen sind, also mehrere Workshops besucht hatten. Der Hunger nach Austausch und neuen Erfahrungen ist groß.
Tanzland Kolumbien vernetzt sich
Im Ergebnis steht eine aufstrebende Tanzszene. Es ist der Beginn eines Prozesses, wie schon der Titel der Veranstaltung verkündet hat: Tanz in Konstruktion. Wobei ein Teilnehmer der Panelrunden sogar Tanz in Expansion sieht, in Kolumbien und darüber hinaus. Die Zukunft wird zeigen, was aus diesen vielen Samen und Kontakten erwächst. Die Tanzenden sind auf jeden Fall bereit, sie müssen sich aber dazu auch professionell organisieren - politisch und künstlerisch.
Der Autor war Teilnehmer des Forums für Nachhaltigkeit, die Reise wurde finanziert vom Goethe-Institut Bogotá.
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