Wunderland des Tanzes
Po-Cheng Tsai gastiert mit seinem B.Dance Ensemble und dem Stück „Alice“ in Winterthur
Wenn in der Adventszeit „Alice“ auf dem Programm steht, ist mit Sicherheit „Alice im Wunderland“ gemeint. In Anlehnung an den Klassiker der Kinderliteratur führt uns Po-Cheng Tsai in eine Märchenwelt des Tanzes, angesiedelt zwischen Gestern und Heute, zwischen Ost und West. Er erzählt keine Geschichte, sondern lässt das Publikum in einer weiten, mythischen Welt des Tanzes versinken.
Sternenstaub flirrt als Videoprojektion (Po-Chih Chang) im Hintergrund über die Leinwand, während in Tannenbäume verkleidete Tänzer*innen einen Wald simulierend über die Bühne schweben. Bevor Alice im weissen Tutu auftaucht, berührt uns ein ebenfalls in Weiss gekleideter Tänzer mit Glitzerhaube – die er notabene die ganze Aufführung über im Gesicht trägt – mit seinen geschmeidigen Bewegungen. Zwei lange, wippende Federn mahnen an die langen Ohren eines Hasen, respektive an das weisse Kaninchen, Märzhase genannt, aus dem Märchen.
Vibrierend und ansteckend
Wie in einem Wintertraum tauchen die beiden Tanzenden in eine fiktive, helle Welt in gleissendem Licht, eine Eisprinzessin mit ihrem Prinzen. Aus den Bäumen werden Tänzer*innen, vibrierend und ansteckend ist ihr Tanz, perfekt ausgeführt, präzis getimt, zu der atmosphärisch abgestimmten elektronischen Musik (Rockid Lee) und in einem phantastischen Lichtdesign (Otto Chang und Chih-Chen Liu). Mal hart und kämpferisch, dann wieder elegisch weich. Denn es geht nicht nur sanft zu und her in dieser Traumwelt, da wird auch mit harten Bandagen gekämpft.
Po-Cheng Tsai hat in Taiwan eine breite Ausbildung als Tänzer durchlaufen, von klassischem Ballett, Physical Dance Theatre, zeitgenössischem Tanz, Hip-Hop bis zu Kung-Fu und mystischem orientalischen Tanz. Von all dem ist in „Alice“ etwas zu sehen. Die 13 Tänzer*innen haben sowohl die Extensions und Arabesken des Balletts wie auch Break-Dance, japanischen Zeremonientanz und Kampfsport verinnerlicht und tanzen mit einer selten zu sehenden, akribischen Klarheit. Sie wechseln mit scheinbarer Leichtigkeit zwischen den Stilen und stürzen sich mit fast athletischen Leistungen in unzählige Variationen.
Tanz sein
Apropos B.Dance – der Buchstabe B in B.Dance steht laut Tsai, wie er in einem Interview sagt, für „To Be“ – Sein, also „Sei Tanz“, den Tanz nicht nur tanzen, sondern selber im Tanz aufgehen.
Dekor und Musik mäandern je nach Stimmung von dämonisch-düster bis verspielt-romantisch. Die Farben Schwarz-Weiss und Rot-Weiss herrschen vor. Dass sich Tsai und sein Ensemble für Mode interessieren, davon zeugen die Haute-Couture-ähnlichen Kostüme. Als die in Rot gekleidete Herzkönigin auftaucht, sieht Alice sich im Spiegelbild selber als Königin. Sie sehen aus wie Rotkäppchen und Schneewittchen.
Hat das Stück nun ein oder zwei Stunden gedauert? Schwierig zu sagen bei diesem fast atemlosen Tanz. Anders als das Royal Ballett, das für seine Aufführung von „Alice in Wonderland“ 2024 zwei Stunden und 50 Minuten einnahm, brauchte Tsai nur gerade eine Stunde und 15 Minuten, um uns in das seltsame Wunderland zu entführen. Sein Fantasie-Labyrinth ist so, wie es ein Märchen zu sein hat, flirrend, wirr, wild und bizarr. Und immer mit einer Prise Ironie.
Kraftvolles Vokabular
Trotz dieses Rauschs an Tanz, Musik und Kostümen betont Tsai, er sei ein Minimalist. Er kommt mit wenig Dekor aus und erzählt keine langen Geschichten, sondern arbeitet gezielt mit mystischen Elementen und mit Metaphorik, d.h. mit Bildern, die komplexe Ideen und Emotionen anschaulich machen. Er sagt, dass er im Tanz seine Welt und seine Sprache gefunden habe. Aus der Vielfalt der gelernten Stile heraus hat er sein eigenes, kraftvolles Vokabular gefunden.
Tsai hat „Alice“ 2021 für das Luzern Ballett kreiert, das Stück konnte aber wegen der Pandemie damals nicht aufgeführt werden. Nun hat der Choreograf die Rechte erhalten und tourt mit seinem B.Dance Ensemble seit rund zwei Jahren durch Europa. „Alice“ ist ein ‚universales‘ Tanzspektakel, das sowohl Jung als auch Alt bezaubern kann. Die Choreografie ist, so archaisch sie manchmal wirkt, sehr ästhetisch und zeitgemäss. Tosender Applaus durch alle Reihen.
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