
Mit uns Menschen stimmt etwas nicht. Immer mehr zeitgenössische Uraufführungen thematisieren einen eigenartig zerrissenen Gefühlskosmos. Versuche, choreografisch die Abgründe unserer Gesellschaft und der Welt insgesamt auszuloten, ohne sich weiter inhaltlich auf ein konkretes Problemfeld zu fokussieren, scheinen derzeit en vogue zu sein. Zuletzt hat Léonard Engel ein entmutigend-hoffnungsloses Szenarium einer Gruppe abgeschotteter Individuen gezeichnet. Chris-Pascal Englund Brauns aktuelle Arbeit könnte man durchaus als Fortsetzung lesen: ein Stück, das den Horror „Ungewissheit“ weiterverfolgt und zugleich einen Schritt Richtung neu aufflackerndem Optimismus wagt.
Der Ausbau von „Overtime“ zum abendfüllenden, stimmungsstark geleuchteten Einstünder wurde dem aus Dänemark stammenden Choreografen mit Hilfe einer zusätzlichen Debütförderung des Kulturreferats der LH München ermöglicht. Zum handfesten Ereignis wird das Werk durch die acht beteiligten Tänzerinnen und Tänzer. Bis auf Sofia Casprini und Aron Nowak haben alle ihre Ausbildung ganz oder teilweise an der Iwanson International School of Contemporary Dance absolviert. Unter dem Label „Stabil Dance Company“ werden ihre darstellerischen wie tänzerischen Kräfte jetzt von Braun sehr kompetent und emotional zielgerichtet gebündelt.
Die Performance startet überraschend im Foyer des Schwere Reiter. Vor der Einlasstür herrscht längst ein erwartungsvolles Gedränge als Trommler und Richter zur Begrüßung kurz das Wesentliche über ihre Plattform „Hier=Jetzt“ herausstellen. Private Spenden würden zunehmend wichtiger, da sich die öffentliche Finanzunterstützung konstant verringere – erklären sie abschließend. Und schon beginnt es lautstark zu rumoren. Eine Tänzerin klettert über den Bartresen. Ihre Schultern sind nach vorne gezogen, der Kopf leicht zu einer Seite geschwenkt. Renee Barbara Kuleš verfügt über eine fremdartige, an ein Alien erinnernde Note.
„Sie wollen uns töten!“
„Sorry, it’s me“, lässt sie die Leute um sich herum hören und scannt dabei suchend ihre Umgebung ab. Jederzeit fluchtbereit ruft sie „Is there anybody out there” in den Raum. Vor sich her redend schlängelt sie sich wiederholt nah an einzelne Besucher heran, arbeitet sich so durch den Pulk der Anstehenden, schreit angsterfüllt „Sie wollen uns töten!“ und entschwindet durch die Tür in den Saal. Der Zuschauerstrom geht ihr nach. Dabei ist der Sound, der einen drinnen empfängt, anfangs richtig ätzend. In einem Lichtkreis exponiert müht sich eine Tänzerin, ihren zur kratzigen Geräuschkulisse zuckenden Körper zu beherrschen.
Alle übrigen Mitwirkenden stürmen herein. Man fällt, kauert am Boden, ruckelt sich in die Senkrechte, vibriert ganzkörperlich am Platz – eine Hand an der Brust, die andere etwas tiefer. In schummriger Umgebung konsolidiert sich die Gruppe immer wieder durch synchron ausgeführte Bewegungen. Ganz anders sieht das aus, wenn plötzlich jeder von einem separaten Scheinwerfer erfasst wird. Plötzlich verharren alle wie festgefroren in einer Pose, von denen keine der anderen gleicht.
Das Klangbild wird Schicht um Schicht reicher. Ebenso Brauns Choreografie. Sie mäandert durch den Raum – hier recht chaotisch, dort mal in Diagonalen respektive einer arbeitsam wirkenden Menschenkette wohl geordnet. Dabei kehren bestimmte Bewegungsmotive in regelmäßigen Abständen wieder – u.a. das verhalten-langsame Vorwärtsstreben mit geduckten Köpfen und eingefallenen Schultern oder eindringliche Hand-zur-Brust-Sequenzen. Eine schöne Idee ist das kollektive Sich-Hinknien, den Oberkörper flach hingelegt, wobei ein Arm seitlich weggestreckt wird. Wenn dann alle gemeinsam mit der anderen Hand in den Ellbogen drücken, schnellt der Unterarm willentlich brüsk hoch – kämpferisch und resignativ in einem.
Druckwelle der Zerstörung
„Overtime“ erreicht seinen Höhepunkt in einer Passage punktuell wilder Duette. Auf eine Umarmung folgt ein Sich-Anrennen ständig wechselnder Partner, das sich mittels rasant gewagterer Sprünge in die Arme des Gegenübers und den daraus resultierenden Drehungen und Hebungen toll steigert. Gespickt mit schier waghalsigen Varianten lässt sich ein Austesten von gegenseitigem Vertrauen eindrücklich visualisieren. Aus dem Off vernimmt man hierauf einen Schreigesang. Haften bleibt der Begriff „Zerstörung“. Vor ihren Augen formt eine der Tänzerinnen ein Fernrohr. Eine imaginäre Druckwelle drückt die Leiber der Gruppe von der Taille aufwärts nach hinten. Alle stürzen zu Boden. Stille.
Im bodenkontaktnahen folgenden Abschnitt gewinnt eine Stirnlampe als kurzzeitig einzig verbliebene Lichtquelle an Bedeutung. Und Chris-Pascal Englund Braun beweist, dass es ihm an Sinn für choreografischen Humor nicht fehlt. Doch nur sporadisch rückt er ein Paar allein in den Vordergrund. Drei weitere lassen nicht lange auf sich warten. Schnell schließen sie sich einem Gesellschaftstanz-Tableau an, das trotz vorgeblich empathischer Verhaltenseingebungen statt virtuosem Schwung exemplarisch lustlose Abwesenheit und partnerschaftliche Überdrüssigkeit vorführt. Am Ende wirkt die bloße Vorstellung, sich küssen zu müssen, wie Dynamit.
Alle sprengen auseinander. Tänzerisch intensiviert sich der Gruppenzusammenhalt erneut. Auch die Musik nimmt Fahrt auf. Was ausbleibt, ist ein finaler Befreiungsschlag. Letztlich kleben Aron Nowak, Renee Barbara Kuleš, Špela Remec, Izabela Foltyńska, Akhil Jamkandi, Sofia Casprini, Mariella Núñez Karg und Jon Olofsson Nordin wieder mit ihren Füßen fest an einem Platz, während ihre Körper ruckartig heftig weiter pulsieren.
Das Licht erlischt, Jubel bricht aus. Ein ermutigender Auftakt für neun junge Choreografinnen und Choreografen aus neun Ländern. Sie waren eingeladen, innerhalb von zwei Wochen in Münchner Tanzstudios eigene Stücke zu entwickeln und öffentlich zu präsentieren. Wenn sich die Begeisterung nach „Overtime“ und die Spendenbereitschaft des Publikums fortsetzen, kann – mit etwas Glück – eines dieser Werke bis zum nächsten Jahr zum Hit werden.
Kommentare
Noch keine Beiträge
Bitte anmelden um Kommentare zu schreiben