Lernt euch kennen
Gob Squads „Dancing with our Neighbours“ eröffnet das 12. Festival Politik im Freien Theater in Leipzig
Positionierungsspiele sind ein klassischer Teil der politischen Bildungsarbeit um eine Gruppe kennenzulernen. Man sortiert sich im Raum nach den Städten, wo man wohnt, nach Zustimmung zu verschiedenen Aussagen und dergleichen mehr. Gob Squad überträgt in „Dancing with our Neighbours“ dieses Konzept auf die Bühne. Die Idee: Fremde Menschen aus der Nachbarschaft lernen sich kennen beim gemeinsamen Tanzen.
Ursprünglich lief die Produktion zum 30jährigen Jubiläum der Company am HAU in Berlin, doch zur 12. Ausgabe des Festivals „Politik im Freien Theater“ in Leipzig gibt es eine Neuauflage. Wollte Gob Squad ursprünglich die eigene unbekannte Nachbarschaft im Kiez erkunden, stehen jetzt sechs Leipziger*innen und vier Gob Squader auf der Bühne – und jede Menge Migrationshintergrund. Das ist kein Zufall, sondern hat, wie alles bei Gob Squad Methode. Zwei Übersetzerinnen im Hintergrund übertragen die zahlreichen kurzen Ansagen ins Ukrainische, Deutsche und Englische, die Übersetzung erscheint als Projektion auf der Rückwand, die auch Live-Video zeigen wird.
Zwischen Verständnis und Smalltalkhölle
Die Ansagen strukturieren das Programm. Jeweils einer der Tänzer*innen tritt vor und formuliert eine Frage oder Aussage. „Ich mache Diät, aber Tiramisu geht immer“, heißt es da etwa oder auch krass „Ich bin ein Kind von einem Alkoholiker“. Purer Nonsense mischt sich mit Ernsthaftigkeiten, die Frage, wer als letzter seiner Klasse in die Pubertät kommt, steht gleichwertig zur Frage, wer Familienangehörige in Kriegsgebieten hat oder wer an Horoskope glaubt. Konfliktlinien der Smalltalkhölle oder notwendige Fallhöhenwechsel, um einen Menschen vollumfänglich zu verstehen? Natürlich baut Gob Squad das Stück mit einen roten Faden und die Behauptung der reinen Improvisation darf hier und da gerne angezweifelt werden.
Zu den einzelnen Fragen wird dann gemeinsam getanzt, also von denen, die sich darin wiederfinden. Die fragende Person gibt die Bewegungen vor, die anderen tanzen nach. Jede*r hat dabei einen eigenen Stil und mal ist es explizit auf die Frage bezogen (und oft sehr komisch) oder auch nur illustrative Körperbewegungen. Dazu gibt es lautstarke Musik vom DJ, der zwischen Zitherklängen, Dance-Nummern und Pop-Klassikern wie Madonna keine Unterschiede macht. Mal unterstützt, mal konterkariert die Musik die Fragen, aber immer hat sie einen klaren Effekt. Hier und da unterbrechen kleine autobiografische Monologe den Fluss: einer erzählt von seiner Zeit in und nach der DDR, eine Tänzerin berichtet von der Totgeburt ihres Sohnes, eine andere tanzt solistisch den Unfalltod ihrer Eltern oder es geht schlicht um Essen. Auf einem Tuch auf den Boden entstehen dann Bilder aus Tüll und Alltagsgegenständen mit den Protagonist*innen im Fokus. Auch die Leipziger Kulturszene beteiligt sich mit kulturpolitischen Einlassungen, wo auf einmal Dutzende von Zuschauenden die Bühne stürmen und am Ende ist Tanzen für alle angesagt.
Festival zum Thema „Grenzen“
Eine schöne Performance, die Diversitäten auslotet und ausleuchtet und die Grenzen zum vermeintlich fremden Nachbarn niederreißen will. Das passt zum Thema „Grenzen“, dass sich diese Ausgabe des alle drei Jahre stattfindenden Festivals gegeben hat. Es ist erstmals in Leipzig und wird erstmals von fünf Theatern zusammen organisiert und wie immer von der Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet.
So ganz überzeugen kann der Abend nicht, denn bei aller Dynamik und Kurzweiligkeit ergeben sich doch Längen in den repetetiven Mustern des 90minütigen Stücks, zumal sich zusammen mit den unvermeidlichen Grußworten in der Interimspielstätte Agora des Leipziger Schauspiels der gesamte Abend etwas zieht. Der Start und das Ende allerdings können sich hören lassen. Zweimal Blasmusik der Leipziger Brassbanditen (zum Start) und der Combo Sogenannte Anarchistische Musikwirtschaft, die zwischen Brecht, Pop und Rio Reiser changiert. Dieses Festival startet mit Pauken und Trompeten. Das spricht eher nach Grenzen niederreißen denn aufrichten – mit Musik und mit Tanz. Oder um es mit der Band Ton Steine Scherben zu sagen: „Kommt zusammen Leute, lernt euch kennen...“
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