Aus der Realität herausfallen
„Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ von Judith Geibel in Konstanz
Konstanz – die Stadt ganz unten, im südlichsten Eck von Deutschland, in nächster Nähe zur Schweiz – ist bislang nicht als Tanzstadt aufgefallen. Umso größer ist die Freude, welches Kleinod an packendem, zeitgemäßem Tanztheater das Publikum dort in den letzten Wochen erleben konnte. In gleich acht Vorstellungen in Folge brachte die Choreografin Judith Geibel in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Georg Kistner und ihrem Team im Kulturzentrum am Münster ihre zweite Produktion auf die Bühne: „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“.
Das Stück folgt einer Erzählung von Bachmann-Preisträger Tijan Sila über eine bosnische Familie nach dem Bosnienkrieg in den 1990er Jahren. Der Text berichtet aus der Perspektive des Sohnes, wie sich das Herausfallen der Mutter aus Wirklichkeit und Realität zurück in unverarbeitete Ereignisse aus der Kriegszeit ereignete und wie dieser es erlebte.
Der Stoff könnte nicht zeitgemäßer sein. Er erinnert an die heute oft verdrängten 1990er Jahre, als in Europa mit dem Jugoslawienkrieg jäh die lange Friedensperiode einen tiefen, traumatisierenden Riss bekommen hatte, und er bringt zur Sprache, was ebenso oft nicht gewusst werden möchte: Was Menschen in sich tragen, die damals nach Deutschland gekommen sind und heute hier leben.
Rolle des Sohnes in Doppelbesetzung
Gespielt und getanzt wird die Mutter von der erst 23-jährigen italienischen Tänzerin Sofia Carotti, die es kongenial schafft, Schauspiel und Tanz gleichermaßen intensiv auf die Bühne zu bringen. Sie ist in der Inszenierung das Bindeglied zwischen den Künsten, während sich Geibel und Kistner dafür entschieden haben, die Rolle des Sohnes doppelt zu besetzen. Da ist zum einen der Schauspieler Irfan Kars, der ganz im Stil des Dokumentartheaters nüchtern das Leben seiner Eltern in der Sprachlosigkeit und deren dadurch ausgelösten Verwandlungen beschreibt und das Bühnengeschehen so immer weiter vorantreibt. Ihm gegenüber steht der zeitgenössisch ausgebildete Tänzer Alex Ferro, dem es auf beeindruckende Weise gelingt, eben jenen Raum, an dem keine Worte mehr helfen, gemeinsam mit Carotti mit Tanz und Leben zu füllen und so die mentale und emotionale Lebenskraft der Figuren fühlbar werden zu lassen.
Dem harten, inneren Stolz der Mutter und ihrer Überheblichkeit – sie war vor dem Krieg Germanistin an der Hochschule in Bosnien – kann so über den Tanz ihre Lebenskraft und Lebenslust gegenübergestellt werden. Nicht umsonst tanzt und spielt Carotti in einem schlichten weißen Kleid und Ferro lässig in Hose, weißem T-Shirt und kariertem Baumwollhemd.
Es berührt, wie die beiden zumeist synchron agierenden Tänzer ihr Tempo und ihre Energie aufeinander abstimmen und so Geibels minimalistisch gehaltene, unprätentiöse, formal präzise Choreografie, die niemals die Emotion Oberhand gewinnen lässt, zum Ausdruck bringen. Umso packender wirkt dann der Wechsel, wenn Carotti mit erhobenem Zeigefinger und lauter Stimme ihre Familie damit vertrackt, wer den „Verrat“ begangen habe, oder dass Tante Dina lebe, obwohl diese längst tot ist.
Rückzug in die Sprachlosigkeit
Ihren Mann spielt Martin Schweingruber – einen still umher schlurfenden, sich zum Messie wandelnden Opa, der zwischendurch mit gellender Stimme schreit, bis auch er sich ganz in die Sprachlosigkeit zurückzieht.
Großartig macht dieses intensive Kammerspiel die kluge Musikauswahl aus Volksliedern, klassischer Musik und Technobeats sowie das minimalistische Bühnenbild: Hinter einem vollgestellten kleinen Küchentisch an der Wand und einem Ohrensessel türmen sich immer wieder großformatige Videoaufnahmen von Google Earth mit Städten im ehemaligen Jugoslawien auf, die auf erschreckende Weise an die Luftaufnahmen von Gaza erinnern, oder von hohen Kellerräumen mit Regalen voller alter Transistor-Radios, Plattenspieler und CD-Playern, die der Vater alle reparieren möchte, auch wenn sich, so das Fazit dieser Erzählung, „nicht alles reparieren lässt“. Man darf als Resümee ziehen, dass diese Inszenierung Tanz und Theater wirklich zusammenbringt und von Menschen erzählt, die unter uns leben. Man darf auf mehr aus Konstanz und dem Geibel-Team hoffen.
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