„Winterreise“ von Tarek Assam

Vertrauen, trotz allem

Tarek Assams Uraufführung „Winterreise“ in Halberstadt

Das Ensemble begeistert ohne Schnickschnack mit hoher choreografischer Sorgfalt, wobei Form über Emotion steht. Dafür sorgt auch ein Hase.

Halberstadt, 26/02/2023

Sie ist kaum zu übersehen. Die Beine seitlich angezogen, den Blick abgewandt, hockt die weiß schimmernde Nymphe auf der runden Stele mitten im Eingangsbereich des Großen Hauses in Halberstadt. Vor Jahrzehnten, am 8. April 1945, hatte sie den schweren Bombenangriff auf das Zentrum der Stadt, im Gegensatz zu zahlreichen Männern, Frauen und Kindern, überlebt. Man hatte sie aus den Trümmern des einst wunderschönen Theaterbaus geborgen. Heute bilden die Steine ihrer einstigen Wohnstatt die Mauern des Großen Hauses, das mehrere hundert Meter entfernt rasch hochgezogen worden war. Um sie herum ist Wärme und Lebendigkeit. Aber draußen an so vielen Orten in der Welt geht der Krieg weiter. Zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer hatten im Stadtzentrum bis zur Abenddämmerung an den Beginn des russischen Angriffskriegs vor genau einem Jahr erinnert. Die „Winterreise“, die in wenigen Minuten ihre Uraufführung erleben wird, passt dazu. Sie ist Tarek Assams neues Tanzstück für Halberstadt, jene Stadt, in der er bereits zwischen 1995 und 2003 als Choreograf und Ballettdirektor des Nordharzer Städtebundtheaters engagiert war. Heute heißt das Ensemble schlicht „Tanz Harz“, und Assam lehrt zusammen mit Kostümbildnerin Katharina Andes das begeisterte Publikum im besten Sinne, dem Zeitgenössischen Tanz nach langer Abwesenheit wieder zu vertrauen und mit ihm in den Dialog zu gehen. Da helfen auch Fuchs und Hase, die rechts und links auf die Seitenwände projiziert als gelungene Bewegungsbilder laufen.

Irgendwann bemerkt man dann jenen Hasen langohrig auf der Bühne kauernd. Bewegungs- und kostümmäßig ist der Hase sehr gut getroffen. Er schleppt ein Quadrat grünen Kunstrasens mit sich herum, breitet es aus, zieht es an andere Stellen und rollt es wieder zusammen. Vier Quadratmeter Heimat in einer nebligen und unwirtlichen Niemandslandschaft. Aber auch vier Quadratmeter „Natur“ als Sinnbild aller Kreisläufe des Lebens, in die man nichts Anderes kann als zu vertrauen, gerade dann, wenn Welt und Menschen gespalten sind, auseinandergetrieben, gelähmt oder ganz kaputt. Assams Hase ist einer der genialen Kniffe in dieser durchweg beachtenswerten Uraufführung.

Ihre hohe Qualität liegt nicht nur in der sehr feinen Weise, mit der hier Tanz choreografiert worden ist, sondern auch in der Art, wie dieser in der Inszenierung in Balance gehalten wird zu Soloklavier und Liedgesang. Ohne jedes Schnickschnack und getragen von einem stimmigen, schlichten, aber wirkungsvollen Kostümbild in den Farben grau, beige, blau und weiß atmet und formuliert sich der Tanz so in einen „dritten“ Raum neben Gesang und Klavier hinein. Die Melodien und Verse, ihre jeweils verschiedenen Dynamiken und Stimmungen treffen so im Auge der Betrachterinnen und Betrachter auf einen choreografischen Kosmos, der schlicht eine Augenweide ist. Der Stil der abstrakt gehaltenen und auf natürliche Expressivität vertrauenden Choreografie lässt sich am ehesten mit der klassischen Moderne des Zeitgenössischen Tanzes vergleichen – die Choreografie selbst mit einem komplex und fein gearbeiteten Gewebe aus sich immer weiter ausdifferenzierenden, sich immer erneuernden sowie mit Tempi und Bewegungsformen spielenden, oft kanonisch ablaufenden Bewegungsfolgen, die in unzähligen Momenten Unerwartetes bereit halten: Hier endet eine Sequenz mit einem überraschenden Schwung der Arme nach oben, dort findet das Trio zu nicht oft gesehen Hebungen kopfüber mit plötzlich nur sekundenlang wie verzweifelt zitternden Händen, die die eigenen Emotionen triggern. Später muss der Hase erleben, wie die Menschen sein Wiesenstück besetzen. Überhaupt taucht die Arbeit mit dem Pas de trois häufig und in spannenden Varianten auf, immer passend zu jeweiligen Lied, jedoch niemals abbildend. Dazu passt Regina Pätzers durchweg zurückgenommene, dennoch immer authentisch wirkende Performance im Allgemeinen und Körpergestik im Besonderen. Von Anfang an verbunden mit der Gruppe, mit ihr laufend oder von ihr umringt, dann wieder neben ihr, entfaltet sich die hohe gesangliche Leistung der Mezzosopranistin zuverlässig. Dem Publikum wird so Raum und Zeit gegeben, sich innerlich ihrer Figur der in die Fremde ausgezogenen einsamen Wanderin entweder zu nähern oder sie eher aus der Ferne zu beachten.

Historisch gesehen verarbeitete der Dichter Wilhelm Müller in „Winterreise“ eigene Erinnerungen an eine Liebesbeziehung, die er als Soldat während der Befreiungskriege zu einer Geliebten im feindlichen Lager hatte. Müller wurde unehrenhaft entlassen, kehrte im Winter in seine Heimat zurück und veröffentliche seinen Gedichtzyklus in einer verbotenen Zeitschrift. Schubert las sie dennoch und vertonte sie 1827 mitten im reaktionären Europa Metternichs, drei Jahre nach der Uraufführung von Beethovens Neunter Sinfonie. Die Hauptrolle des Wanderers nun mit einer Frau zu besetzen, ohne dies weiter zu thematisieren, ist ein weiterer toller Kniff in dieser „Winterreise“.

Dadurch, dass Pätzer und die Choreografie insgesamt durchgehend die Form über die Emotion stellen, wirkt Assams „Winterreise“ als assoziationsreiches Kunstwerk in schweren Zeiten, das auch schwierige Klippen wie die Präsentation des Klassikers „Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum“ meistert, indem Pätzer neugierig vom Hasen, getanzt von Daniele Cavuoti, beäugt wird. Aber wer ist dieser Hase? Auf dieses Rätsel steuert Assams „Winterreise“ irgendwann zu. Viele Szenen später nimmt Cavuoti den Hasenkopf ab und überzieht sich eines der Kostüme, die die anderen tragen. Er wird schlicht ein Mensch unter Menschen, die zum Schluss innehalten und dorthin schauen, zum Publikum, wo „drüben hinterm Dorfe ein Leiermann“ steht. Chapeau, Halberstadt!

 

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