Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?

Leïla Ka und Chey Jurado bei der Heidelberger Tanzbiennale

Konkurrenz ohne Aggression und beiläufige Zärtlichkeit ohne erotische Komponente: Mit feinem Gespür für das Unterlaufen von maskulinen Klischees zeichnet Durado eine Vision davon, wie sich die Welt friedlich weiterdrehen könnte. Und wenn Leïla Ka in Jogginghosen unterm femininen Tüllkleid im Lichtkegel steht, ist der Bogen wechselnder Identitäten schon weit gespannt.


Die Überwindung der Schwerkraft kann man den Schuhen überlassen. Wenn sie am Boden festgehakt sind, kann sich der Körper über den gesicherten Füßen Extravaganzen außerhalb des Schwerkreisradius erlauben. Es war Michael Jackson, der für „Thriller“ Tanzschuhe mit Aussparungen in den Absätzen erfunden hat, mit denen man sich in Nieten auf dem Tanzboden einhaken konnte. Chey Jurado, spanischer Tänzer und Choreograf, nutzte dieses Prinzip für sein Solo „Raiz“ (Wurzel). Einer seiner Schuhe ist auf der kleinen Drehbühne befestigt, auf der er es sich ziemlich unbequem eigerichtet hat. Irgendetwas fehlt in den Taschen seines schlackernden Jacketts und der oversized Hosen: der Pass, das Portemonnaie, der Schlüssel fürs Haus oder fürs Leben, wer weiß das schon?

Vom zwanghaften Durchwühlen der leeren Taschen bis zu einer Drehung auf der Stelle im Kreis ist es nicht weit: ein sprechendes Sinnbild für hemmende Wurzeln, die kein Fortkommen erlauben. Wenn sich der Tänzer endlich traut, aus den Schuhen zu steigen, gibt er alle gewohnten Sicherheiten auf. Wie kann man sich in einer unbekannten, unbehausten Welt zurechtfinden, wie auf mögliche Bedrohungen reagieren? Die Antwort liegt im urbanen Tanz, der hier quasi folgerichtig auf ein neues Lebensgefühl reagiert, in dem alles infrage gestellt ist.

Groß ist das Thema, das sich Chey Durado für ein Duo mit Javito Mario gesetzt hat: „Samsara“, der ewige Kreislauf des Lebens. Er beginnt bei einem unsichtbaren Schachspiel, bis das Ziehen der Figuren in eine freundschaftliche Rangelei mündet. Wettstreit bleibt das beherrschende Thema, auch wenn jetzt jeder auf seine Weise auf Welterkundung geht. Es ist berührend zu sehen, wie sich die beiden physisch höchst unterschiedlichen Protagonisten dabei mit unnachgiebiger Sanftheit gegenseitig beschützen. Urban Dance ist dabei der gemeinsame Bewegungsnenner: das artistische, so lässig wirkende Innehalten in einem Bewegungsablauf wird hier genutzt, um den anderen vor möglichen Fallstricken zu bewahren. Konkurrenz ohne Aggression und beiläufige Zärtlichkeit ohne erotische Komponente: Mit feinem Gespür für das Unterlaufen von maskulinen Klischees zeichnet Durado eine Vision davon, wie sich die Welt friedlich weiterdrehen könnte.

Und dann war da noch Leïla Ka, ein darstellerisches Ausnahmetalent. Gleich ihr erstes, nur siebzehnminütiges Solo „Pode ser“ (Kann sein) wurde mit Preisen überhäuft und katapultierte sie regelrecht in die vordere Reihe der zeitgenössischen Tanzszene. In Heidelberg konnte man sehen, warum: Wenn diese Tänzerin in Jogginghosen unterm femininen Tüllkleid im Lichtkegel steht, ist der Bogen wechselnder Identitäten schon weit gespannt. Da braucht sie nur einen Flunsch zu ziehen, um sich als Null-Bock-Teenie erkennen zu geben, um sich im nächsten Augenblick in eine aktuelle Jeanne D`Arc zu verwandeln. Markenzeichen ihres Solos sind die tanzenden Schultern und Ellenbogen, während ihre Hände am Ausschnitt des Kleides festgezurrt scheinen – so geht Nicht-fliegen-können.

Auch Leïla Ka kommt vom urbanen Tanz, einem Schwerpunktthema dieser Tanzbiennale unter dem Motto „Dance breaking free“. Wie viel Kraft, Aggression, Reaktionsschnelligkeit und Schonungslosigkeit es dafür braucht, seine eigene Identität jenseits der Geschlechterklischees finden zu können – das stellt die Tänzerin augenfällig unter Beweis. Gelernt hat Leïla Ka in der legendären Kompanie von Maguy Marin und hat im erfolgreichsten Tanztheaterstück aller Zeiten, „May Be“, mitgetanzt. Auch dieses Stück wird auf dem Festival zu sehen sein.
 

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