„Beethoven 7“ von Sasha Waltz & Guests, Tanz: Ensemble

Dialektik des Rhythmus

„Beethoven 7“ bei Sasha Waltz & Guests im Berliner Radialsystem V

Zweimal Rhythmus extrem: Vor Beethovens 7. Sinfonie, die „Apotheose des Tanzes“, hat Sasha Waltz eine elektronische Live-Performance von Diego Noguera gesetzt. Beide führen die Tänzer*innen in Ekstase, doch ein seliges Erwachen folgt in beiden Fällen nicht. Das Publikum ist dennoch hingerissen.

Berlin, 12/03/2023

Schon zur Pause riesiger Beifall für die fabelhaften Tänzer von Sasha Waltz & Guests, die sich über eine Dreiviertelstunde hinweg zu einem Dauercrescendo ozeanischer Fluten aus Elektronik-Klängen langsam in Ekstase getanzt hatten. Man war ihnen quasi mit offenem Mund gefolgt, hatte ihre Präzision ebenso bewundert wie ihre Bewegungslust. „Freiheit/Extasis“ nannte Diego Noguera seine Musik, die er gemeinsam mit den Tänzern in den Proben entwickelte und nun am Cockpit live regelt. Man kann in diesem ersten Teil auch ein Echo der Geschichte der Menschwerdung sehen.

Aus dickem Nebel hatte sich allmählich eine kleine Gruppe herausgeschält. Im Hintergrund des schwarz ausgehängten Raums ist nur der unterste Teil der Operafolie erhellt. Die Figuren tragen skurrile, an Tiere gemahnende Köpfe wie aus einem Fantasyfilm zu netzartigen Anzügen (Kostüme: Federico Polucci). Sie scheinen von einem anderen Stern zu kommen. Und so bewegen sie sich auch, roboterhaft, suchend, forschend, aber nicht findend. Blackout. Aus den Nebelschwaden treten nun menschliche Gestalten mit humanen Bewegungen, wieder in Slow Motion. Manchmal bricht einer aus und rennt ein Stück. Wieder die Suche. Manchmal ein Sich-Finden. Blackout. Nebel.

In der dritten und längsten Szene differenziert sich das Material. Rhythmus schleicht sich ein, das Licht wird härter, die Bewegungen großräumiger. Die Menschen sind getrieben, manche wirft es schwarmartig hin und her, Einzelne oder Kleingruppen wagen kühnere Ausfälle. Es herrscht eine schicksalhafte Hölderlin-Stimmung – was ja auch passt, teilen sich Beethoven und Hölderlin doch das Geburtsjahr 1770 (wie auch mit dem Weltgeist-Philosophen Hegel). Der Rhythmus verschärft sich und treibt das Geschehen bis hin zu barbarischer Gleichschaltung. Dann wieder peitscht er die Massen im Rotlicht in tanzende Ekstase wie im Club – die Wonnen der Gewöhnlichkeit werden ausgekostet bis ins Letzte. Und noch immer verstärkt sich der Rhythmus, lassen die Bassschläge die Sitzflächen des Publikums erzittern. Am Ende wieder desintegriert, schreiten die Tänzer*iinnen schließlich mit ausgebreiteten Armen rückwärts zurück in den Nebel. Blackout. Noch einmal erscheint eines der Fantasy-Wesen, aber gegen das MG-Feuer dieser Rhythmusmaschine hat es keine Chance und stirbt.

Im Rahmen des arte-Beethoven-Festes hatte Sasha Waltz im antiken Amphitheater von Delphi im Juni 2021 bereits zwei Sätze von Beethovens Siebter choreografiert. Teodor Currentzis hatte sein Ensemble Anima Aeterna dirigiert, und diese Musiker sind nun im zweiten Teil des Abends vom Band zu hören – Garantie für eine frische, energiegeladene Interpretation. Und so ist der erste Satz denn auch eine Wonne frei ausschwingender Bewegung inmitten der nun freigeräumten schönen Klinkerarchitektur des Radialsystems V. In cremefarbenen, seidig glänzenden und fließenden Gewändern (Kostüme: Bernd Skozig) tanzt alles in warmem Licht anmutig durch den großen Raum, findet sich zu Gruppen und löst sich wieder auf individuellen Bahnen. Eine arkadische Utopie der Schönheit, bis die Tänzer*iinnen am Ende durch verschiedene Abgänge wie hinausgesaugt sind.

Als sie wieder gesammelt erscheinen, tragen sie pathetische, lange, schwarze Röcke bzw. Hosen und zelebrieren ein Trauerritual. Wie schon beim ersten und dann im dritten Satz gibt es auch einen berührenden Moment der Zweierbegegnung, in dem Gefühle sich vertiefen. Im dritten und vierten Satz zieht das Tempo an, und der Rhythmus beginnt wieder zu dominieren – eine „Apotheose des Tanzes“ hatte Richard Wagner bekanntlich die Siebte genannt.

Nun dissoziieren sich auch immer mehr die Rollen der neun Damen und fünf Herren. Zwischen zwei Sätzen tanzt eine Dame ein energisches Solo, später nimmt sie ein riesiges (Seiden-)Banner in die Hand und versucht die Gruppe zu animieren. Zwei Herren tanzen ein rebellisches Duo, was die Gruppe aber eher einschüchtert. Irgendwann recken alle verkrampft die Finger in die Höhe wie zur Beschwörung von etwas Höherem. Und am Ende ziehen sie sich wieder, wie schon im ersten Teil, mit ausgebreiteten Armen zurück. Der wunderbare, klug verschränkte Abend entpuppt sich als eine getanzte Dialektik der Aufklärung. Ein schönes Geschenk hat Sasha Waltz sich da zum 60. Geburtstag gemacht.

 

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