„Oslo“ aus Tanzabend NACHBARSCHAFT von Lillian Stillwell. Tanz: Ensemble

„Oslo“ aus Tanzabend NACHBARSCHAFT von Lillian Stillwell. Tanz: Ensemble

Tanz als Ausdrucksmittel für die Prozesse von Friedensverhandlungen

Interview mit Lillian Stillwell zu ihrer kommenden Produktion „Nachbarschaften“ am Theater Münster

Amsterdam, Gelsenkirchen, Osnabrück, Münster – vier Choreograf*innen lassen sich mit ihren künstlerischen Visionen für ein Projekt vom Westfälischen Frieden inspirieren.

Münster, 19/10/2023

Lillian Stillwell, „Nachbarschaften“ als Titel für einen Tanzabend klingt erst einmal recht kleinteilig und privat. Was hat Sie zu diesem Thema angeregt?

Spätestens seit der Corona-Pandemie ist das allgemeine Bewusstsein dafür, dass wir nicht allein sind, gewachsen. Zu erleben, dass wir uns nicht mehr uneingeschränkt begegnen können – und das im Zeitalter der Globalisierung, da wir uns doch ungehinderter denn je begegnen könnten – hat uns im privaten wie im globalen Kontext deutlich spüren lassen, wie sehr unsere Leben miteinander verbunden sind und wir diese Verbindung auch brauchen.

Unsere Nachbarschaften sind zum einen sehr konkret. Sie sind geografisch verortbar, und an unseren Wohnorten oder im Theater können wir sie direkt sehen, spüren, mit ihnen sprechen. Nachbarschaft hat für mich aber auch eine Komponente, die weit darüber hinausgeht. Ich denke da z.B. an die viel besprochenen Seelenverwandten oder auch globalen und digitalen Nachbarschaften – hier fühlen wir uns einander nah, weil wir die gleichen Werte und Weltsichten teilen, weil uns ähnliche Ideen umtreiben, wir gemeinsam Zukunftsvisionen entwickeln können und so auch in einem respektvollen Miteinander auf Augenhöhe tatsächlich Friedensprozesse vorantreiben.

Die Frage, wie wir unsere Community gestalten, mit wem wir unseren Raum und unsere Zeit teilen, ist für mich ein sehr aktuelles Thema, das auch viel mit dem Spielzeitmotto des Theaters Münster zu tun hat: „Und wenn morgen Frieden wäre?“ Wir feiern in diesem Jahr den 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens. In einem beispielhaften, mehrere Jahre dauernden Friedensprozess wurde nach 30 langen Jahren endlich dieser Krieg zwischen Nachbarn beendet.  Möglich wurde das nicht zuletzt durch den körperlichen Einsatz aller Beteiligten, die nach Münster und Osnabrück gereist waren – zu Fuß, zu Pferd oder in Kutschen – und auch zwischen den Orten immer wieder hin und her gependelt sind. Dieser körperliche Akt des sich aufeinander Zubewegens, um Frieden zu schließen, hat mich inspiriert, einen Tanzabend zu kreieren, der diesen Prozess widerspiegelt. 

Warum statt eines eigenen abendfüllenden Stücks ein Tanzabend mit drei weiteren Choreografinnen?

Die europäische, insbesondere die deutsche Tanzszene ist von einer hohen Dichte geprägt: Innerhalb eines Radius von etwa 100 km finden sich oft mehrere Tanzkompanien. Selten aber findet ein wirklicher Austausch zwischen den Ensembles statt. Diesen Reichtum an verschiedenen künstlerischen Stilen, den wir direkt vor unserer Haustür haben, möchte ich mit „Nachbarschaft“ sichtbar machen und einen Raum des künstlerischen Miteinanders schaffen.  Die Vermittlung des tänzerischen Wissens, die choreografische Handschrift und die Herangehensweise im Ballettsaal sind bei allen eingeladenen Choreograf*innen sehr unterschiedlich. Sie alle beschäftigen sich mit demselben Thema – Tanz als Ausdrucksmittel für die Prozesse von Friedensverhandlungen – und doch werden wir vier völlig verschiedene Ergebnisse sehen.

Was hat Ihre Auswahl der Choreograf*innen bestimmt?

Uns war es wichtig, Künstler*innen einzuladen, die neben großartigen Choreografien auch die Werte und Visionen des Abends teilen und offen für diesen gemeinsamen, städteübergreifenden künstlerischen Prozess sind. Neben der geografischen Nähe wollten wir aber auch Choreograf*innen einladen, die Erfahrungen in der Leitung von Tanzensembles haben, sich also auch in ihrem Alltag nicht nur mit künstlerischen, sondern auch administrativen und institutionellen Verhandlungsprozessen auseinandersetzen müssen.

Ihr Stück „Oslo“ geht von den Oslo-Friedensverhandlungen aus… 

Der im Oslo-Abkommen ‚Declaration of Principles‘ formulierte Frieden hat nicht gehalten. Krieg und Konflikt haben wieder gesiegt. Die aktuelle, herzzerreißende Lage im Mittleren Osten zeigt erneut, wie fragil Frieden ist, und wie dringend wir eine Antwort auf Gewalt brauchen. Hier denke ich an Leonard Bernstein, der für mich mit seinen genreübergreifenden Werken, seiner Vermittlungsarbeit und seiner Überzeugung, dass die Arbeit der Künstlerin, des Künstlers, einen (u.a. politischen) Beitrag leisten kann, auch heute noch wegweisend ist. „This will be our reply to violence“, sagte er nach dem Mord an John F. Kennedy, „to make music more intensely, more beautifully, more devotedly than ever before“.

30 Jahre, nachdem die Friedensverhandlungen 1993 stattgefunden haben, herrscht trauriger Weise immer noch Krieg im Mittleren Osten. Nichtsdestotrotz bleiben die Kernideen des Osloer Friedensprozesses gültig und beispielhaft: Frieden entsteht auch durch intime, persönliche Gespräche und fußt auf gewachsenem Vertrauen. Die Osloer Verhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen zwischen nur wenigen Menschen statt. Außerhalb der Verhandlungsräume haben die Verhandlungsparteien gemeinsam mit dem norwegischen Ehepaar, das dieses Treffen initiiert hatte, gegessen, getrunken, von ihren Familien erzählt. Diese Verschränkung von Persönlichem und Politischem war sicher nicht unbedeutend für den Erfolg, auch wenn der nicht für immer angehalten hat. 

Meine Choreografie oszilliert zwischen zwei Paaren der Geschichte, dem norwegischen und dem aus dem Mittleren Osten, und zwischen dem Akt des Verhandelns und dem des sich Annäherns. Verhandlungen sind für mich oft wie ein Tanz: Es wird gestoßen, gelassen, widerstanden, blockiert, Raum wird genommen oder gegeben, man wiederholt sich oft, und das Tempo nimmt gegen Ende stetig zu.

Die Stücke von Anouk van Dijk, Marguerite Donlon, Giuseppe Spota teilen, wie Sie gesagt haben, mit Ihnen die gleiche Vision. Wie zeigt sich das inhaltlich und formal?

Bei jedem Stück sehen wir unterschiedliche Aspekte von Nachbarschaften, Gemeinden, Beziehungen. In Anouk van Dijks Meisterwerk „gentle is the power“ treffen wir ein Paar, das zwischen Kontrolle und Kontrollverlust eine Form für ihren Umgang mit Macht, Ebenbürtigkeit und Liebe findet. Giuseppe Spotas „Blank 2.0“ zeigt uns eine Gruppe, die zwar zusammenhält, aber sich nie in die Augen schaut. Ihre nach vorn geneigten Köpfen erinnern uns an unsere heutige Gesellschaft, die auf der Straße zunehmend nur nach unten auf ihre Handys schaut. Erst zu Ende treffen zwei – fast zufällig – aufeinander und öffnen sich einander im intimen Duett. Marguerite Donlons raues und oft getanztes Stück „Ruff Celts“ bringt eine kulturelle Nachbarschaft auf die Bühne, inspiriert von ihren irischen Wurzeln. Die Tänzerinnen und Tänzer schreien vor Freude, werfen sich hin und her, tanzen im rhythmischen Kontrapunkt als Ausdruck ihrer Vielfalt, die sie, im wilden ausgelassenen Tanz, zusammenhält.

Findet das Visionär-Nachbarschaftliche auch auf der Produktionsebene seinen Ausdruck?

Um die Choreografien zu erlernen, waren die Tänzer*innen viel unterwegs – genau wie die Botschafter des Westfälischen Frieden damals. Sie haben in den anderen Städten die Schritte gelernt und geprobt und waren im Kontakt mit den Kolleg*innen der anderen Ensembles. All diese Erfahrungen bringen sie jetzt auch in ihre Arbeit hier zu Hause in Münster ein. Die Choreograf*innen Anouk von Dijk, Marguerite Donlon und Giuseppe Spota und ihre Assistent*innen sind außerdem zu uns nach Münster gekommen und haben nicht nur ihre Choreografien an das Ensemble weitergegeben, sondern haben sich auch mit uns über ihr Wissen und ihre Erfahrungen ausgetauscht. Um diesen Arbeitsprozess auch für das Publikum zu verdeutlichen und ihn über die Aufführungen hinaus zu bewahren, hat der Dokumentarfilmer Bowie Verschuuren „Nachbarschaft“ regelmäßig begleitet. Seine Filme werden Teil des Tanzabends sein und vor jedem Stück einen Einblick in den Probenprozess geben und auch die Choreograf*innen zu den Themen Nachbarschaft, Konflikt, Frieden und Verhandlung zu Wort kommen lassen.

Was bedeutet die gleichzeitige Arbeit mit vier verschiedenen, doch sehr eigenständigen Choreograf*innen für Ihr Ensemble?

Es ist eine große Herausforderung für das Ensemble. Die Tänzer*innen müssen sich in kürzester Zeit sowohl körperlich wie auch geistig auf die sehr unterschiedlichen Choreografie-Welten einlassen, um ganz darin eintauchen zu können. Sie sind davon sehr begeistert. Aber der Aufwand ist trotzdem groß und herausfordernd: viele Reisen, die eigene Verantwortung für die Pflege und das Aufrechterhalten der gelernten Choreografien, der hohe Grad an Kommunikation, die diese Produktion braucht. Wir alle sind durch diesen Prozess enorm gewachsen – und noch einmal mehr als Kollektiv zusammengerückt.

 

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