„Back to the Roots“ von Renegade

Problemkind?

Renegade mit „Back to the Roots“ im PACT Zollverein Essen

tanz nrw 2023: Als Kompanie sind Renegade längst etabliert. Trotzdem scheint das für den Urban Dance an sich nicht zu gelten. Zumindest, wenn man die Reaktionen des Publikums verfolgt.

Essen, 13/05/2023

Von Hannes Bohne

Am dritten Tag des tanz nrw-Festivals finde ich ein wesentlich jüngeres Publikum bei PACT Zollverein in Essen vor: Eltern kommen mit ihren Kindern, es sind viele Jugendliche zu sehen. In Gesprächen höre ich, dass viele aus den umliegenden Städten hierhergekommen sind, um Renegade zu sehen. Der große Saal ist ausverkauft. Renegade, die heute Abend „Back to the Roots“ aufführen, scheinen eine Art Held*innen für die Anwesenden zu sein.

2003 gegründet, ist Renegade die erste urbane Tanzkompanie in Deutschland. „Renegade“ ist die Bezeichnung für jemanden die*der außen steht, abtrünnig ist und sich nicht an Gesetze oder Konventionen hält. Lässt sich diese gesellschaftliche Widerständigkeit auch in ihrer künstlerischen Praxis finden und wie verhält sich das im Spannungsfeld ihrer Etablierung in Institutionen des zeitgenössischen Tanzes?

Auf der Bühne steht ein überdimensionierter Ghettoblaster. Dieser ist ungefähr zwei Meter hoch, vier Meter breit und den ersten batteriebetriebenen Ghettoblastern aus den 1980ern nachempfunden.

Der Ghettoblaster steht wie ein Monolith auf der Bühne. Er ist sehr aufwendig nachgebaut, die Anzeiger für die Lautstärke bewegen sich mit den einsetzenden Beats, zwei Rollen im Kassettenfach bewegen sich. Mich erinnert dieses Symbol an den mysteriösen Stein in Stanley Kubricks „2001“. Der Ghettoblaster verkörpert die magische Macht des Hip-Hops auf der Bühne, die Erinnerung an die eigene Geschichte und deren Behauptung. Als übergroßes Symbol zeigt er: Wir sind hier, das ist unsere Geschichte. Wie in der Fußgängerzone in den 1980er Jahren steht er jetzt auf der Bühne von PACT Zollverein. Auch hier geht es um die Aufmerksamkeit, diesmal der des Publikums zeitgenössischer Tanzproduktionen, die sich oft — explizit oder implizit — als „Hochkultur“ verstehen.

Jojo (Joëlle Karfich), Naomi (Naomi Karfich), Jacky (Jacqueline Neuenhausen), Big Liveness oder Twinn Wave (Solomon Quaynoo), Robozee (Christian Zacharas), Rayboom (Rymon Zacharei) betreten nacheinander die Bühne. Sie sind bekannte Urban Dancer, tragen Jeans und Jeansjacken auf deren Rückseite BACK TO THE ROOTS steht. Sie sind ganz klar eine Kompanie, Kompliz*innen.

In einer Szene versuchen die Tänzer*innen, dass Publikum zu call-and-response zu animieren: „DON’T STOP“ — „get it, get it“. Doch es tut sich nicht viel. Wären wir auf einem Battle, wäre es normal, mitzumachen. Wir säßen dann auch nicht auf gestuften Sitzplätzen, sondern stünden um die Tänzer*innen herum. Hier ist es anders, und das ist eine Einschränkung für Urban Dance, der von Community lebt. Doch dafür sind die meisten Bühnen für (zeitgenössischen) Tanz nicht eingerichtet. Die Tänzer*innen gehen gelassen damit um, dass das Publikum nicht mitgeht. Die Musik stoppt, sie schütteln die Köpfe und kommentieren das mangelnde Engagement unter sich. Ich habe den Eindruck, es macht ihnen nichts aus, weil sie zusammenhalten.

In einer anderen Szene tanzt Naomi allein vor den anderen Tänzer*innen. Sie zeigt immer wieder eine Abfolge, doch bekommt nur ein Kopfschütteln als Reaktion. Sie macht weiter, zeigt ihre Moves. Sie probiert es wieder und wieder, doch die anderen Tänzer*innen schütteln weiter ihre Köpfe. Im Gespräch beschreibt Jacky später, dass es in diesen Situationen darum gehe, so lange zu tanzen, bis jemand versteht, was Du machst. Zu zeigen: Guckt, was ich mache! Erkennt mich an und meine Kunst. Dieser Kampf um Respekt wird deutlich. Naomi wirkt immer erschöpfter, bis Rayboom anfängt zu nicken. Nach und nach ist die ganze Gruppe bei ihr, ist überzeugt. Jetzt wird sie verstanden, sie sprechen wieder eine gemeinsame (Bewegungs-)Sprache und feiern das auf der Bühne.

Später höre ich die Frage, ob „Back to the Roots“ die richtige Wahl für den Samstagabend, einer der prominentesten Zeiten im Festival, gewesen sei. Diese Frage zeigt, wie zum Teil nach wie vor in der zeitgenössischen Tanzszene auf Urban Dance hinabgeschaut wird: zu unterhaltungsbetont, zu wenig reflexiv, keine „Hochkultur“. Ich sehe diese Haltung auch in der Performance, wenn das Publikum nicht mitgeht. Ich sehe diese Haltung, wenn neben mir eine Person den Applaus verweigert.

Solange sich das nicht ändert und auch darüber hinaus, gehören Performances wie „Back to the Roots“ und Kompanien wie Renegade an diesen Platz. Es hat auch lange gedauert, bis sich ein Publikum, das klassischen Tanz gewöhnt war, sich mit zeitgenössischen Tanzästhetiken anfreunden konnte. Dieses Lernen ist nicht einfach, wird vielen nicht gefallen, doch es handelt sich bei Urban Dance genauso um „Hochkultur“ wie sie zeitgenössischem Tanz zugeschrieben wird. Das Stück verhandelt komplex Fragen nach Ein- und Ausgrenzung, Empowerment, Gerechtigkeit und zeichnet minutiös die Entwicklung Urbanen Tanzes seit den 1980er Jahren im Ruhrgebiet nach. Und das mit Popping, Locking, Breaking, Krump und House auf sehr hohem tänzerischem Niveau. Diese Stile sind womöglich manchen Leser*innen dieses Artikels nicht geläufig. Das ist aber nicht ein Problem der Urban Dance Szene, sondern ein Problem der Marginalisierung von Urban Dance in der zeitgenössischen Tanzszene. Deswegen lege ich jede*m, der diese Stile nicht kennt, ans Herz, sie zu recherchieren. Dann ist es auch bei der nächsten Urban Dance Show oder Battle einfacher, die Aufführung zu „verstehen“, beziehungsweise zu genießen und zu bewundern. Damit scheinen die Tänzer*innen und der Choreograf Niels Storm Robitzky trotz ihrer Etablierung in Form von Kompanien und Aufführungsmöglichkeiten immer noch Abtrünnige in der zeitgenössischen Tanzszene zu sein. Auch das ist nicht deren Problem, sondern das eines mangelnden Verständnisses von und der verbreiteten, impliziten Abwertung dieser Kunstform.

Gleichzeitig gab es drei Mal Zwischenapplaus vom Publikum, das wegen Renegade hier war — die Verhandlung, der Kampf um Respekt und Anerkennung verläuft auch hier, und ich habe viel Hoffnung, dass sich die Sehgewohnheiten und Erwartungen an Urban Dance mit der Zeit anpassen werden. Es ist auf den Weg dahin aber noch einiges zu tun.

 

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit Tanzwissenschaft-Studierenden und dem Festival tanz nrw. Mit dem gemeinsamen Projekt möchten die Institutionen – zumindest temporär – eine Lücke schließen in der überregionalen Kulturberichterstattung über die freie Tanzszene in NRW.

 

 

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