Es ist ein Abend, der definitiv im Gedächtnis bleibt. Der definitiv über die eigenen Seherfahrungen im Theater reflektieren lässt. Es ist ein Abend, der in seinen Grundprinzipien einfach ist, es aber gleichzeitig schafft, durch seine Überlagerungen jeder an sich so einfachen Ebene ein komplexes und anregendes Gesamterlebnis zu kreieren, das das Publikum auf eine metaphorische Reise durch die theatrale Situation, in der es sich befindet, einlädt.
Das Solo „Phrases“ von und mit der griechischen Choreografin und Tänzerin Venetsiana Kalampaliki, die als eine von drei Residenz-Choreograf*innen von K3 Tanzplan Hamburg ihre Produktion im Rahmen des TanzHochDrei-Festivals auf Kampnagel präsentiert, startet mit einem sehr ungewöhnlichen Monolog aus dem Off, in dem Kalampaliki vorwegnimmt, was in der folgenden Performance vermeintlich passieren wird. Die Show werde eine Tour durch den Gebäudekomplex von Kampnagel beinhalten, das Publikum auch nach draußen führen. Schon die detaillierte Beschreibung dieser Route lässt einen bewusst darüber reflektieren, wie man überhaupt bis zu dem Platz, auf dem man im Theatersaal sitzt, gekommen ist, welche Etappen man beinahe selbstverständlich bis zu diesem Zeitpunkt absolviert hat. „What is said and what is done will not always agree,“ heißt es gegen Ende des Eröffnungsmonologs. Das Vorwegnehmen dieses Mottos und das Schüren ganz spezifischer Erwartungen im Vorfeld der Performance erweist sich im Verlauf des Abends als genialer Schachzug. Die Spannung darüber, welche Erwartungen sich erfüllen und welche gebrochen werden gibt „Phrases“ seinen großen Charme.
Sobald Venetsiana Kalampaliki die Bühne betritt, beginnt eine intensive Abarbeitung an vermeintlich simplen Bewegungen und Haltungen wie Sitzen, Stehen und Springen, die niemals unisono, stattdessen in polyphoner Verschränkung der Tanz-, Musik- und Sprachebene spielerisch durchgeführt wird. Ein Frauenchoral, gemischt mit bassintensiven Elektrorhythmen erklärt im Gesang gleich einer Duden-Definition, was „Sitzen“, was „Springen“ eigentlich bedeutet, die Tänzerin seziert den Bewegungsablauf oder offenbart die schier unendlichen Möglichkeiten seiner Ausführungen, während gleichzeitig die gesungenen Texte als Buchstaben über die Projektionsflächen tanzen. Schnell wird klar, dass die einzelnen „Inhalte“ auf den gesamten Raum, auf jede Wahrnehmungsebene ausgeweitet werden. Das mag zum einen redundant, bisweilen sogar überfordernd wirken, hält einem als Zuschauer*in ohne körperliche Einschränkung aber auch den Spiegel vor, dass die Möglichkeit, all diese Reize wahrzunehmen, ein Privileg ist. Es stellt sich die Frage, ob in einer Aufführung nicht grundsätzlich diese Vervielfältigung der Informationsübergabe im Sinne der Barrierefreiheit Einzug erhalten sollte, zumal sie bei „Phrases“ sowohl akustisch als auch visuell äußerst ästhetisch ist.
Die etwa einstündige Performance endet damit, dass Venetsiana Kalampaliki wieder aus dem Off spricht und die Anweisungen gibt „Microfone off. Projectors off. Lights off. Almost black“, denen sogleich Folge geleistet wird. Nach dem vorausgegangenen Überfluss an Reizen erscheint diese plötzliche Ruhe und Dunkelheit, als wäre im eigenen Körper ein Stecker gezogen worden. Ein eindrucksvoller Moment, der leider von dem viel zu schnell einsetzenden, aber zurecht enthusiastischen Beifall unterbrochen wird.
Weitaus unspezifischer, dabei aber nicht weniger komplex war eine Woche zuvor Gloria Höckners Produktion „Sentimental Bits“ ausgefallen. In einer Verschränkung von Tanz, Elektromusik, Live-Video und „lebendigem“ Bühnenbild begeben sich die vier Performer*innen auf die Suche nach Körperlichkeit in Zeiten von künstlicher Intelligenz und Überwachungstechnologien. Momente vom Verlust des Körpers, Aussagen darüber, wie auch in der Programmierung der digitalen Welt weiße Körper bevorzugt werden, werden laut. Inhaltlich ist das zwar nicht immer vollständig nachvollziehbar, atmosphärisch werden dabei aber intensive, bisweilen unheimliche Momente kreiert, in denen die Ebenen ganz im Sinne eines Gesamtkunstwerks gleichwertig interagieren. Und so sind es manchmal sogar Szenen, die gar keine Personen involvieren, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen, wenn etwa die Projektionswand langsam über den Köpfen der Zuschauer*innen rotiert und ein Eigenleben entwickelt.
Den Abschluss des Festivals machte Clarissa Sacchelli mit ihrer weitaus minimalistischeren Arbeit „Wild“. In einem zwischen Intimität und großer Energie changierenden Trio loten die Tänzerinnen Momente der Schwerkraft aus. Stets mit den Händen an den Hüften oder Händen der anderen, eingerahmt durch die im Bühnenraum sitzenden Zuschauer*innen, lehnen sie sich aneinander, lassen sich fallen, werden aufgefangen, drehen sich umeinander, beginnen von vorne. An den Füßen tragen sie holzbesohlte Flip-Flops, die durch die synchronen Schrittabfolgen der Tänzerinnen klackernde Rhythmen erklingen lassen. Die sich wiederholenden, aber in der Wiederholung abgewandelten Bewegungen des Tänzerinnen-Bündels, das wie ein einziger denkender Körper wirkt, teils untermalt durch die Soundkreationen einer Live-Musikerin, haben eine ungemein hypnotische Wirkung. Das Klackern der Holz-Flip-Flops hallt noch lange nach.
Die Produktionen des TanzHochDrei-Festivals haben eindrucksvoll bewiesen, dass der Zeitgenössische Tanz so viel mehr als nur Bewegung ist. Von der atmosphärischen Wirkung bis hin zum kritischen Potenzial theatraler Mittel überzeugten Gloria Höckner, Venetsiana Kalampaliki und Clarissa Sacchelli mit vielseitigen und vielschichtigen Produktionen, die gespannt machen auf den Werdegang der drei Choreograf*innen.
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