Martin Schläpfers „Dornröschen“-Fassung am Wiener Staatsballett

Über Dornröschen gestolpert

Martin Schläpfers „Dornröschen“-Fassung ufert zu einer Show aus Tanz-Versatzstücken mit einer holprigen dramaturgischen Klammer aus

Schläpfer macht kein neues „Dornröschen“, sondern dreht zunächst die Sichtweise um. Anstelle eines radikalen Neuentwurfs orientiert er sich an den seit der Uraufführung 1890 gespielten, leicht unterschiedlichen Fassungen.

Wien, 25/10/2022

Zu guter Letzt legen sich die Eltern auf den Boden und die Anderen weichen zurück ins Dunkle, Aurora und ihr Prinz sind da schon verschwunden. Martin Schläpfers dreieinhalb Stunden langes „Dornröschen“ mit dem Wiener Staatsballett zeugt von der unlösbaren Komplexität einen Klassiker ohne stringente Idee anzugreifen.

Denn Schläpfer macht kein neues „Dornröschen“, sondern dreht zunächst die Sichtweise um. Anstelle eines radikalen Neuentwurfs orientiert er sich an den seit der Uraufführung 1890 gespielten, leicht unterschiedlichen Fassungen, möchte sich allerdings einer solchen dann doch nicht unterordnen und nennt daher auf dem Programmzettel zunächst sich selbst als Choreografen und danach den Schöpfer Marius Petipa. Von dessen den internationalen Ballett-Kanon gleich einer Basis bestimmenden Handschrift behält Schläpfer zentrale „originale“ Motive etwas halbherzig bei: den Auftritt der Aurora und das Rosen-Adagio, den Hochzeits-Pas de deux, dessen Herren-Solo er allerdings aufteilt zwischen Schwiegervater (Masayu Kimoto) und Prinz - man kann es hier fast respektlos finden so in feste Choreografie-Bestände einzugreifen - sowie den Blauen Vogel-Pas de deux.

Mit der biegsamen, wendigen und spielfreudigen Hyo-Jung Kang in der Titelrolle und dem neu engagierten, etwas steif und sehr verhalten wirkenden Brendan Saye als Prinz Désiré verfügt er immerhin über zwei Tänzer*innen, die Dornröschen-Erfahrungen mitbringen. Kang tanzte jenes von Marcia Haydée, Saye die auch in Wien lange Jahre gespielte Version von Rudolf Nurejew. In diesen Abschnitten vermittelt sich auch immer wieder Petipas erzählerische Kraft mit sorgsam angelegter Tanzkunst. An der Interpretation des „Blauen Vogels“ mit Davide Dato und Kiyoka Hashimoto darf aber stilistisch noch gefeilt werden. (Wieso Dato in dieser Rolle mit freiem Oberkörper auftritt ist eine der vielen, kleinen Fragen, die sich an diesem Abend stellen)

Darüber hinaus aber lehnt sich Schläpfer weit hinaus und missversteht offenbar die mit Musik und dramatischer Verwandlung aber auch der Deutlichmachung von Tänzerhierarchien verbundene Gestaltungskraft des französisch-russischen Meisters des späten 19. Jahrhunderts. Aus den in den meisten Fällen symbolträchtig choreografierten Rollen, vor allem jener der Feen, allen voran Fliederfee (berückend fein: Ionna Avraam) und Carabosse (exaltiert giftig: Claudine Schoch), übernimmt er quasi Leitmotive, die er mit sehr unterschiedlichem Geschick in ein neoklassisches Gewand steckt. Das funktioniert nur stellenweise. Im Fall der weiteren Feen, die im Prolog solistisch auftreten und gewöhnlich ihre Gaben dem Neugeborenen bringen, das aber in der Fassung zu diesem Zeitpunkt in einem Lüster ähnlich weit oben hängt und die Feen daher überflüssig macht, funktioniert es nicht. Zeichenhaftes, das an sich bekanntes Wissen in sich trägt und keineswegs leer an Ausdruck ist, wird hier wie ein Muster ohne Wert verschoben und zur Dekoration umfunktioniert. Solcherart wird zu Tschaikowskis Musik extrem viel, teilweise skurril wirkendes Schrittmaterial von draller Intensität produziert, das aber nichts erzählt. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Musik unbedingt bewegungsmäßig aufgefüllt und überbefüllt werden muss. Auffällig sind dabei strahlend weiße Spitzenschuhe, die gewöhnlich eingefärbt werden. Hier wirken sie oft wie Sneakers, die in heftigem Kontrast zu den bunten, teilweise gelungenen dann wieder faschingsähnlichen Kostümen (von Catherine Voeffray) stehen.

Was markiert denn nun diesen von Bühnenbildner Florian Etti durchaus sinnfällig mit Rosenmotiven und Überblendungen gebauten Abend, der in erster Linie wegen der unbestechlichen Musik von Tschaikowski unter dem lauten und nicht nur für Brendan Saye zu schnellem Dirigat von Patrick Lange vorankommt? Eckpunkte der als Uraufführung bezeichneten Umrahmung der Petipa-Höhepunkte sind unter anderem zu Beginn eine Kinderwunsch-Bet-Szene des Königspaars mit Blick gen Himmel vor dem Bett kniend, das komplette Streichen der Jagdszene im zweiten Akt zugunsten eines vierzehnminütigen Einschubs von Giacinto Scelsis Anahit (Zuspielung vom Tonträger) in dem zwei Naturwesen (Yuko Kato, Daniel Vizcayo) und die Fliederfee den Prinzen zur schlafenden Schönheit im umrankten Bett führen, eine sich für ihren Fluch entschuldigende Carabosse, die eins wird mit der Fliederfee und später mit dem Prinzen Walzer tanzt und als Apotheose das Aufgeben der Eltern (Olga Esina, Kimoto). Immer wieder regt sich da ein dramaturgischer Versuch das Märchen menschlicher und natürlicher zu machen. Eine definitive Entscheidung aber wird nicht gefällt: Märchen mit Illusionskunst, ironische Überzeichnung bis zur Kasperliade oder doch Psychologie?

Martin Schläpfer hat bisher kaum Erzählballette entworfen, er ist vielmehr ein Vertreter des abstrakten neoklassisch basierten Bewegungs-Changierens auf musikalischer Anregung, der immer wieder, bewusst oder unbewusst, Einflüsse aller Art erkennen lässt. Aktuell findet sich nicht nur die Sprache des Zeitgenossen Hans van Manen in der Gestaltung der vier Prinzen, auch anderes Material aus bekannten Werken taucht ohne Zitat-Charakter auf. Der Abend wirkt daher mit unterschiedlichsten Versatzstücken überfrachtet.

Martin Schläpfer im Videointerview zu seiner "Dornröschen"-Version: https://www.youtube.com/watch?v=Xm8-igRteSg

 

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