Treffpunkt Trümmerhaufen

„Le Chant des Ruines“ von Michèle Noiret zum Auftakt des Festivals TANZ!Heilbronn

Das Eröffnungsstück handelt vom Überleben in Katastrophenzeiten und ist aktueller denn je.

Heilbronn, 19/05/2022

Es kann tatsächlich vorkommen, dass ein zeitgenössisches Stücken durch eine Wartezeit nicht an Aktualität verliert, sondern sogar gewinnt. So ein Fall ist das Eröffnungsstück des diesjährigen Festivals „TANZ!Heilbronn“, das nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause erstmals wieder stattfindet. Das Eröffnungsstück, die 2019 entstandene Produktion „Le Chant des Ruines“ der Belgierin Michèle Noiret handelt vom Überleben in Katastrophenzeiten und war erstmals in Deutschland zu sehen. Im fulminanten Abschlussvideo wird die Denkrichtung Umweltkatastrophe signalisiert. Aber die Bühne, ein Trümmerszenario mit Schutthaufen, passt besser zur aktuellen politischen Lage, als es sich die neu Heilbronner Kuratorin Canan Erek je hätte träumen lassen können.

Zwölf Jahre lang lag das Festival in den bewährten Händen von Katrin Kirchhoff; nun drückt die in Berlin ansässige Choreografin und Kuratorin Canan Erek dem Festival für zeitgenössischen Tanz ihren Stempel auf. Die Begegnung mit Pina Bausch hat sie nach Deutschland geführt; in ihrer Wahlheimat Berlin hat sie ein internationales Festival für ein junges Tanzpublikum ins Leben gerufen und engagiert sich in Projekten mit sozialem und interkulturellem Ansatz. Als erstes Novum im Festival-Programm hat sie ein mobiles Stück mitgebracht, dass vor Ort in Klassenzimmern aufgeführt werden kann.

Am Heilbronner Theater gibt es keine feste Tanzsparte. Umso größer ist die Bedeutung eines Festivals, das hier Begegnungsmöglichkeiten mit den vielfältigen Facetten des zeitgenössischen Tanzes bietet. Die Choreografin des Eröffnungsstückes, Michèle Noiret, setzt in ihrer Arbeit „Le Chant des Ruines“ mit einer raffinierten Mischung aus Theater, Tanz, Video und Sound (Todor Todoroff) voll auf den multimedialen Trend. Ganz besonders hat es ihr die raffiniere Integration von Film in ihre Arbeiten angetan. In ihrem aktuellen Stück projizieren Mitwirkende Live-Videos auf den Bühnenhintergrund und verstärken so den Eindruck eines „Mittendrin“ für die Zuschauer. Am Ende sorgen eine rasante Kamerafahrt und ein bedrohlich realistischer Sound dafür, dass sich das Publikum regelrecht in einen katastrophalen Waldbrand hineingezogen fühlt.

Ein theatralischer Kunstgriff bewahrt das Stück vor zu viel Melodramatik: Eine der Protagonist*innen kündigt – wie ferngesteuert wirkend - die einzelnen Abschnitte der Choreografie als Anleitung zum Überleben durch Tanz in Katastrophenzeiten an. Die Botschaft scheint gerade recht für eine Überflussgesellschaft voller Selbst-Optimierer. Das geht nicht ohne Sarkasmus ab, aber die angedachte Selbstironie kann bei der Betrachtung des Bühnengeschehens schnell dem Verlust des eigenen Sicherheitsgefühls weichen. Distanzierter Humor sorgt trotzdem für eine gekonnte Brechung der Katastrophenstimmung.

Fünf Tänzer*innen proben den Überlebensmodus – mal einzeln, mal als Paar oder als Gruppe – ganz, wie die wechselnden Gegebenheiten es zulassen. Von konventionellem Tanz kann unter dieser Prämisse nicht viel übrigbleiben – stattdessen gibt es viel Fliehen und Verstecken, Mit- und Gegeneinander-Kämpfen, Kriechen, Rennen, Fallen und Sich-Aufrappeln – und pures Chaos. Bei dessen Inszenierung beweist die Belgierin ihre solide Erfahrung im Bühnen-Handwerk. Was zunächst wie ein Schuttberg aussieht, geht später als Müll durch und lässt vielfältige Assoziationen zu. Die Tanztheater-Mixtur aus großer Katastrophe, Witz und extremer Körperlichkeit kam beim Heilbronner Publikum bestens an.

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