„Up the Slipery Slope“ von Maria Chiara de'Nobili

Chance und Schrecken des Kollektivs

Versagen, aufbauen und martialische Hinrichtung

Drei junge Choreograf*innen zeigen im „Think Big“-Format des Festivals Tanztheater international in Hannover ihre Uraufführungen.

Hannover, 05/09/2022

Endlich Regen! Das Geräusch fallenden Regens, dem ein feiner Nebel auf der Bühne der Hannoverschen Musikhochschule noch zusätzlich Haptik verleiht, klingt uns sonnengegerbten Norddeutschen inzwischen wie Musik in den Ohren. Mal wieder durch den Regen laufen – herrlich! Dem barfüßigen, etwas in den Knien geknickten und vorsichtig zitternd die Zehen aufsetzenden Einzelkämpfer in „Up the Slipery Slope“ ist aber sichtlich nicht nach „Singing in the Rain“. „Guten Morgen, du Versager“, begrüßt ihn eine Stimme aus dem Off. Das Parkett des Lebens ist ihm zu glatt, wie seine hektischen, etwas karikierten Gesten deutlich machen. Und die anderen Tänzer*innen, die da hinzustürmen, eine Dame in High Heels mit Schirm und andere unterscheidbare Figuren, zeigen auch erst mal kein Interesse an ihm.

Maria Chiara de‘ Nobili wirft für ihr Uraufführungsstück am „Think Big“-Abend des Festivals Tanztheater international ihre acht Tänzer*innen wie Spielzeugfiguren auf die Bühne, die in einer Art pantomimischer Überzeichnung fast filmisch agieren. Das von einer Jury kuratierte „Think Big“-Format, das in Zusammenarbeit mit dem Ballett der Staatsoper Hannover entwickelt wurde, gibt jedes Jahr drei jungen Choreograf*innen die Möglichkeit, unter professionellen Bedingungen mit einer größeren Tanzgruppe zu arbeiten. De‘ Nobili weiß damit den Raum zu füllen. So muss der barfüßige Außenseiter immer etwas hindurchschlingern durch die Grüppchen der anderen.

Was aber nun anfangen damit? Als der Außenseiter auf eine zweite Barfüßige trifft, wird diese von den anderen wie das Pfingstopfer entkleidet, aber wieder freigelassen, beides bleibt unmotiviert. Dafür rennt man nun ihm hinterher, aber auch das zerläuft sich. Wenn man die einzelnen Figuren so eigenständig charakterisiert, müssten auch Aggressionen und Anziehungen erkennbare Anlässe haben. Ein Regentag mit dem kleinen Versager, der am Ende vielleicht der wahre Checker ist, das könnte ja nett sein. Aber so erzählerisch durchgeführt ist die Figur dann wieder nicht.

Immerhin, er hat plötzlich einen Freund, mit dem er sich lange intim umarmt. Eine Tänzerin, die mit gebeugter Gestik als alter Spielverderber gekennzeichnet ist, stört und trennt sie immer wieder. Wo die Liebe herkommt, bleibt leider ungeklärt, aber ausführlich wird gezeigt, wie immer abwechselnd einer der Männer den Spielverderber abwimmelt. Rettende Idee: Der Alte darf auf einer Frau auf allen Vieren reiten, da ist er zufrieden. Nur ist inzwischen auch der Freund wieder in der Gruppe aufgesogen. Trotz solch recht konkret pantomimischer Episoden entwickelt sich kein Programm, keine Zielrichtung. Und die Textansagen über Alltagsparadoxien zwischen Ökoanspruch und Plastiktüten wirken gänzlich aufgestülpt.    

Vom Aufbauen, katalanisch „Renfilats“, soll die Uraufführung von Anna Borràs handeln. Sie setzt auf die Kraft der Gruppe, die sich gleich am Anfang untergehakt im Kreis vereint. Das abstrakte Gegenmotiv ist die Aufstellung hintereinander in einer Reihe, aus der nur die Ellenbogen mal zur einen, mal zur anderen Seite ausfahren. So tragen sie eine Tänzerin auf ihren Schultern wie in einer Toten-Prozession. Am Ende steht eine Tänzerin auf den Schultern der als runder Pulk Verbundenen, auch das erinnert an eine Prozession, als trüge man die Madonna. Sie beziehe sich dabei auf die katalanische Tradition der Castellers, Türmen aus Menschen, heißt es im Programm, eine Aufbauleistung, wo sich einer auf den anderen verlassen muss. So hebt uns die Choreografin am Ende mit empor.

Der Weg zu diesem Gemeinschaftswerk ist ambivalent. Die Tanzenden bewegen sich auf allen Vieren oder im Krebsgang. Es gibt die Gefolgschaft der Marschierenden, die auch robben oder wie unter Granathagel auf- und vorwärtsspringen müssen. In ihren Schärpen können sie wie in Seilen gehalten, aber eben auch gefangen werden. Borràs lässt das die Tanzenden sehr energiereich durchspielen. Die Stärke, aber auch die Zerbrechlichkeit des selbstbestimmten Kollektivs werden deutlich.

Dagegen wirkt die dritte „Think Big“-Uraufführung nur martialisch. Roberto Tedesco führt in „Superorganismo“ ein eher beängstigendes Kollektiv vor. Die Tanzenden in grauen Overalls starten als flüsternde Menge im Zuschauerraum, bewegen sich in präzisem Rhythmus auf allen Viren, marschieren mal in Zeitlupe, mal in Stroboskoplicht oder halten sich die Arme wie schützende Kapuzen über dem Kopf. Wir hören sie atmen im Bootcamp, immer mehr müssen auf allen Vieren kriechen, im Rhythmus aufschwingen, hochgehen, stürzen. Auch hier gibt es die Phalanx mit rhythmischem Ausscheren nach links und rechts, aber auch noch Hinrichtungen, Schleifen der Leichen, maschinelle Gruppen in präzisem Zack. Als wäre man in Big Brothers Reich von George Orwells „1984“.

Das ist sauber umgesetzt, aber im Gegensatz zu „Reniflats“ fehlt die positive Perspektive. Tedescos „Superorganismo“ wirkt so autoritär wie solche hierarchischen Diktaturen nun mal sind. Das ist kein demokratisches Kollektiv. Eine Suche nach „neuen Formen von Gemeinschaft in Zeiten von Vereinzelung und Isolation“, wie der Programmzettel ankündigt, vermag ich da nicht zu erkennen, sondern nur ganz veraltete, erschreckende Formen von Ausbeutung und Kollektivismus, zu denen keiner mehr zurück will. Ich lese das Stück jetzt mal als Warnung.

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