"Deck Three" von Sara Angius

"Deck Three" von Sara Angius

Freude und Wehmut

TanzArt ostwest Festival 2022 in Gießen gestartet

Eine Ausstellung, zwei Site Specific-Performances und drei Stücke aus der freien Szene: ein fulminanter Start der letzten Festivalausgabe

Gießen, 31/05/2022

Nach einem Jahr Pandemie-Pause und einem Tanz-Film-Festival im vergangenen Jahr, startete die TanzArt ostwest-Festival in eine neue, seine 20. Runde. Es ist das letzte TanzArt-Festival in Gießen, da Ballettdirektor Tarek Assam am Ende dieser Spielzeit das Stadttheater Gießen verlässt. Für langjährige Tanzfans ist die Freude über das wiedererwachte Festival-Feeling daher mit Wehmut gemischt.

Zum Start gab es mal wieder eine Kunstausstellung, im Atrium des Rathauses, ausgerichtet von den beiden heimischen Malerinnen Katja Ebert-Krüdener und Maria Miladinovic. Sie hatten mehrere Ateliersitzungen mit zwei Mitgliedern der Tanzcompagnie Gießen (TCG), Chiara Zincone und Jeremy Curnier, die zur Vernissage eine raumgreifende Performance boten. Ein anderes Event war die Buchvorstellung des langjährigen Theaterfotografen Rolf K. Wegst, der die TCG und das Tanzfestival seit vielen Jahren begleitet, und zwei schwergewichtige Dokumentationsbände erstellt hat. Dazu gab es von Magdalena Stoyanowa, dienstälteste TCG-Tänzerin, eine Performance, die von Vertrauen und Respekt erfüllt war.

Zum Auftakt gehört in Gießen traditionsgemäß ein Site-Specific-Projekt, das vom städtischen Kulturamt gefördert wird. Dieses Jahr war vorher schon ein Kooperationsprojekt mit den Universitäten Weimar und Frankfurt/Main zu erleben, das den Titel „Un/Usual Grounds“ erhielt. Der außergewöhnliche Ort dieser Performances war das Parkdeck 3 des Einkaufszentrums „neustädter“.

Die erste Site-Specific „Un/Usual Grounds“ fand auf dem Parkdeck in drei parallelen Bühnenräumen statt, die von Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar in einem Seminar unter Leitung von Prof. Luise Nerlich entstanden waren. Akteur*innen der Performance waren drei Sängerinnen von der Hochschule in Frankfurt, drei Tänzer der Tanzcompagnie Gießen und vier Gasttänzerinnen, zwei davon aus Südkorea. Massimo Gerardi hatte die Aufgabe alle Beteiligten szenisch zusammenzubringen, was der erfahrene Tanzpädagoge, Choreograf und Manager bei der Tanzcompagnie Gießen (TCG) zu meistern wusste.

Die Bühnenräume bestehen aus beweglichen Elementen, mit denen die Tanzenden spielerisch umgehen. Die bequemen Lounge-Anzüge (Kostüme Thomas Döll), farblich den Gruppen zugeordnet, ermöglichen raumgreifende Bewegungsdynamik. Phänomenal sind die drei Sängerinnen von der Hochschule Frankfurt, die aus den Songbooks von John Cage vortragen. Stimmmodulationen und Geräusche, sinnentleerte Wortfolgen und lautes Atmen gehören dazu. Damit alle ihren Einsatz finden, ist die Partitur im Rücken der Zuschauenden an die Wand projiziert. Eine faszinierende Einführung in das ungewohnte Terrain der Klangwelt von John Cage.

Die zweite Site-Specific „Deck Three” nahm den Ort sehr wörtlich. Gastchoreografin Sara Angius aus Braunschweig interpretiert ein leeres Parkhaus als „Liminal Space“, als Ort des Übergangs und der Verwandlung. Ihr Protagonist kommt im schicken E-Jeep angebraust, wird beim Weggehen plötzlich ausgebremst. Die Musik im Auto springt immer wieder an. Unwohlsein breitet sich aus, in klirrend hohen Tönen auch für Zuschauende erfahrbar. Nach und nach klettern Gestalten aus dem Auto, genauso wie er in Herrenanzüge gekleidet, mehrere Alter Egos also. Sie begleiten und fordern ihn, schwingend schön zum „Donauwalzer“ oder bedrängend in diversen Standbildern des Autofahrens. Am Ende verschwinden sie zum leisen „Ave Maria“ und er findet zum inneren Frieden zurück. Das Publikum ist begeistert.

Der erste Abend auf der taT-Studiobühne bot Vertrautes: Romeo und Julia, aufbereitet als Collage mit darstellerischen und getanzten Teilen, dargeboten von der Strado Compagnia Danza aus Ulm. Mirjam Morlok tritt in wechselnden Kostümen auf, immer in knalligen Rottönen. Sie erzählt die Geschichte, schreibt sie neu unter dem Motto „was, wenn sie nicht gestorben wären“, zieht dafür alle möglichen filmischen Versionen zu Rate und intoniert mit Hingabe Liebesschmonzetten. Sie agiert zwischen Opernpathos, Slapstick und Stummfilm, imitiert sogar Don Corleone aus „Der Pate“ und versucht sich als Paartherapeutin. Das Tanzpaar (Frederica Faini, Oliver Petriglieri) zeigt Liebe und Streit in den Variationen von junger bis zu langjähriger Beziehung, beeindruckt vor allem mit verschiedenen Tanzstilen. Auf Italienisch geführte Streitgespräche und viele italienische Liebessongs sorgen für gute Laune.

Am zweiten Abend auf der taT-Studiobühne war eine alte Bekannte zu treffen, Irene K. und drei Mitglieder ihrer Compagnie (Eupen/Belgien). Diesmal überraschte sie mit dem Stück des Gastchoreografen Pascal Touzeau, der unter dem Titel „Dark Light“ die Beziehung zwischen Geist und Körper zu fassen versucht. Stampfendes Gehen markiert das Alltägliche, dazwischen gibt es Phasen des schwankenden Suchens. Der Choreograf nutzt die unterschiedliche Körperlichkeit der Drei: der Schwarze, sehr kraftvoll-muskulöse Tänzer Gold Mayanga mit den beiden zierlichen, weißen Tänzerinnen Marcia Liu und Nona Munnix, die zudem noch in hautfarbene Trikots gekleidet sind und dadurch wie durchscheinend wirken, wie Geister eben.

Die nächste Choreografin, Deborah Smith-Wicke von Sozio-Vision in Motion (Kassel), lotet in ihrem Stück „Epilogue – The backside of the moon“ das Verhältnis von Körperlichkeit und Persönlichkeit aus. Ihre drei Tänzerinnen tragen glitzernde Oberteile mit tiefem Rückausschnitt, damit die „am schwersten zu berührende Stelle unseres Körpers zwischen den Schulterblättern“ sichtbar bleibt. Die körperliche Tür zur Seele soll geöffnet werden, dabei hilft die von Geigen getriebene Musik von Philipp Glass, um die Tänzerinnen in geradezu rauschhafte, allerdings auch strapaziöse Zustände zu versetzen.

Das Festival geht fulminant weiter, bis zur Gala am Pfingstmontag.

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